118 | Soziale Dunkelangst

„Ein Sechsjähriger steht vor dem Sarg seiner älteren Schwester. Ich spüre eine totale Ohnmacht angesichts dessen, dass ich und wir alle dieses Morden, diesen andauernden Terror, diesen Wahnsinn nicht anhalten können und weiteren Verbrechen zuschauen.“

(Katja Petrowskaja: Als wäre es vorbei  – Texte aus dem Krieg)

Ich komme noch einmal auf das Thema „Kriminalität“ und ihren Ab-und Ausdruck in der Kriminalstatistik zurück. Das Thema Verbrechens- und Kriminalitätsangst beschäftigt seit den Messerattacken und Amokfahrten der letzten Monate mal wieder verstärkt die Medien und die Politik. Ich kann meine Haltung zu diesem Thema auf die Kurzform bringen: Erst schürt man Panik, dann managt man sie und lenkt sie in eine bestimmte Richtung: auf Ausländer und Migranten. Statt über die realen Bedrohungen und Gefahren aufzuklären und sie einzuordnen, wie es demokratisch-aufklärerische Tradition wäre, verstärkt man sie und kocht sein trübes Süppchen auf dem selbst geschürten Feuer. In der Kriminologie weiß man seit Langem, dass es zwischen der objektiven Kriminalitätslage und der subjektiven Wahrnehmung von ihr einen Widerspruch gibt oder geben kann. Gegen Angst kommt man mit vernünftigen Argumenten schwer oder gar nicht an. Die politische Reaktion auf die in der Bevölkerung umgehenden Befürchtungen gleicht dem Vorhaben, eine Spinnenphobie durch Ausrottung der Spinnen kurieren zu wollen.

In einem Beitrag zu dem unter anderem von Günter Grass herausgegebenen und 2002 im Steidl-Verlag erschienenen Band „In einem reichen Land“ habe ich mich unter der Überschrift „Das Monströse als Ernstfall der Demokratie“ zum Thema Kriminalitätsfurcht wie folgt geäußert:

„Der Übergang von der fordistisch-industriellen zur informationellen Produktionsweise und die mit ihm einhergehenden Globalisierungsprozesse scheuchen die Menschen aus Gewohnheiten und Routinen auf und bringen die Grundlagen ihres Alltagsleben und ihrer Lebensläufe ins Wanken. Die Beschleunigung des gesellschaftlichen Wandels erzeugt massenhaft Schwindelgefühle und innere Gleichgewichtsstörungen und entbindet Ängste, aus der Gesellschaft und der Welt herauszufallen. Immer mehr Menschen haben das Gefühl, mit dem Fortgang des Ganzen nichts mehr zu tun zu haben. Die Ängste bleiben vage und unbestimmt, vagabundieren durch den sozialen Raum und heften sich an dieses und jenes. Seit einiger Zeit ist nun zu beobachten, wie die durch die ökonomisch-sozialen Umbrüche der Gegenwart freigesetzen Gefühle von Angst, Desorientierung und Unsicherheit durch ein medial und politisch betriebenes Panikmanagement gezielt in Verbrechensfurcht umformuliert und in eine Art sozialer Dunkelangst verwandelt werden. Die von der Filmindustrie und den Medien betriebene „Vermonsterung“ und „Hannibalisierung“ des Verbrechers erlaubt die Konkretisierung einer diffusen Angst, die in der Verfolgung, Verurteilung und möglichst harten Bestrafung des Täters zur Ruhe zu kommen hofft. Das kriminalpolitische Panikmanagement trägt dazu bei, dass eine archaisch anmutende Lust an der Strafe und eine Logik der Rache wiederauferstehen, gegen die einst die gesamte juristische und demokratisch-politische Logik aufgebaut wurde. Die angstvermarktende und –fördernde Politik der Medien lässt eine pervertierte Form direkter Demokratie um sich greifen, die die Distanz zum Zeitdruck abschafft und kollektive, nicht gerade demokratisch zu nennende Leidenschaften entfesselt.“

***

„Dann gehe ich in Berlin spazieren und treffe auf einen netten Bekannten, der meint, die Ukraine sei selbst schuld daran, dass der Krieg noch nicht zu Ende ist, und ich spüre den Schuss eines Pazifisten.“

(Katja Petrowskaja: Als wäre es vorbei – Texte aus dem Krieg)

Ein Freund hat eine Arbeitsgruppe zum Thema „Psychoanalyse und kritische Theorie“ ins Leben gerufen, die sich einmal im Monat trifft. Letzte Woche war ich eingeladen, weil es um den Adorno-Text „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“ gehen sollte, den ich im Jahr seines Erscheinens, also 2019, rezensiert hatte. Ich war beeindruckt von der in dieser kleinen Gruppe versammelten Klugheit. Es entwickelte sich rasch eine spannende und intensive Diskussion, aus der ich viel gelernt habe. Die anderen sind deutlich jünger als ich und viel dichter dran am aktuellen Geschehen, das sich weitgehend in den sogenannten sozialen Medien abspielt, zu denen ich keinen Zugang habe – und auch keinen haben will. In vier Wochen soll es noch einmal um den Adorno-Text gehen. Ich bin gespannt.

In den letzten Tagen habe ich einen regelrechten Vergesellschaftungs-Schock erlitten. An zwei aufeinanderfolgenden Tagen war ich unter Menschen. Das hat mir nochmal vor Augen geführt, was ich in den letzten Jahren entbehrt habe. Die Gründe, die gegen den Versuch einer Wiederbelebung des Georg Büchner-Clubs sprechen, den wir in den Jahren vor der Pandemie betrieben haben, existieren nach wie vor oder sogar mehr denn je. Was tun, wenn die Alt-Stalinisten und heutigen Putin-Schönredner wieder auftauchen? Wie könnte man sie fernhalten? Durch Verlagerung einer solchen Veranstaltung in private Räumlichkeiten und einen eher kleinen Rahmen von geladenen Freunden und Freundinnen. Sobald der Versammlungsort ein öffentlicher oder halb-öffentlicher Raum ist, hat man keine Handhabe gegen unerwünschte Teilnehmer. Ich habe keine Lust, Lebenszeit mit sinnlosen Gesprächen mit Putinisten (wie dem Bekannten von Katja Petrowskaja) und Corona-Leugnern zu vergeuden und mich zu ärgern. Ich muss auf mein angeschlagenes Herz Rücksicht nehmen.

***

Im Radio hörte ich, während ich eine Bärlauch-Pesto zubereitete, ein Gespräch mit einem der heutigen Groß- und Medien-Soziologen. Als er sagte: „Da fehlt mir eine Öffnung des Diskursraums“, schaltete ich innerlich ab und verließ fluchtartig den „Diskursraum“.

***

Schüler aus Duisburg haben sich mit rechtsradikalen Drohbriefen eine schulfreien Tag verschafft. Der Schulbehörde bliebe nach Empfang der Drohungen gar nichts anderes übrig, als den Unterricht an dem in den Schreiben genannten Tag ausfallen zu lassen. Was für ein Machtgefühl für die oder den Absender! Auch ganz versiert, Amok und Rechtsradikalismus miteinander zu kombinieren. Wenn das mal nicht Schule macht.

***

In letzter Zeit sitze ich häufig mit dem kroatischen Bauarbeiter vorn im Park auf einer Bank. Er kennt alle regelmäßigen Besucher des Parks und weiß zu jedem eine Geschichte zu erzählen. Manchmal hat er sich die auch nur ausgedacht oder aus Beobachtungen zusammengesetzt. Meistens hat er eine Bank bereits in Beschlag genommen und die Sitzfläche gereinigt. „Wo bleibst du denn, mein Freund?“, begrüßt er mich dann und rückt ein wenig zur Seite, um mir Platz zu machen. Dann erzählt er mir in seinem nach all den Jahren immer noch bruchstückhaften Deutsch von seinen Ausflügen in die Geschäfte und seinen Beobachtungen in der Stadt. So habe er neulich gesehen, wie eine Mutter ihrem Kind, das im Kinderwagen gesessen habe, eine Helm aufgesetzt habe. Als würde das Kind in einem Rennwagen sitzen. Andere Mütter verhängten bei Sonnenschein den Kinderwagen mit Tüchern, damit ihre Kinder nur ja nicht den UV-Strahlen ausgesetzt werden. Ob ich das nicht auch ein wenig übertrieben fände? Gestern stand er irgendwann auf und sagte: „Komm mal mit“. Er führte mich auf das Gelände eines nahegelegenen Altersheims. Dann zeigte er mit seinem Stock auf einen in den Gehweg eingelassenen schmalen Streifen aus Pflastersteinen. „Das habe ich gemacht!“, sagte er mit einem gewissen Stolz. Auch hier setzten wir uns nochmal eine Weile auf eine Bank in die Abendsonne. Er werde sich, obwohl er kein Bayern-Fan sei, am Abend deren Spiel gegen Mailand ansehen. Er versteht nicht, wie man sich ohne Not von einem Spieler wie Thomas Müller trennen kann. Ich übrigens auch nicht. Als ein Bank-Fatzke vorüberging, bedauerten wir ihn wegen der Klamotten, die er trug. Das bot mir mal wieder Gelegenheit, Thoreau zu zitieren: „Hütet euch vor allen Unternehmungen, die neue Kleider … verlangen.“ Die Kleiderordnung sei auf dem Bau deutlich lockerer gewesen, sagte Nikola lachend.

***

Beim Gang durch die Stadt stellte ich fest, dass heute mal wieder so ein Lemmy Kilmister-Tag war. Als man den in einem Gespräch mit der „Süddeutschen Zeitung“ fragte, ob er einen Rat für uns hätte, antwortete er: „Haltet euch fern von den Idioten … Die Regel lautet: acht von zehn … Acht Idioten an einem guten Tag. Sonst: neun. An einem schlechten Tag triffst du zehn Leute und einer wie der andere ist ein kompletter Vollidiot.“

***

Seit Donnerstag sind wir am Edersee in unserem Feriendomizil. Von dort aus besuche ich den Mann meiner leider vor zwei Jahren gestorbenen Cousine Dorothea. Weil ich früher als verabredet in seinem Dorf ankomme, besuche ich Dorotheas Grab. Ich setze mich auf eine in der Nähe stehende hölzerne Bank und lasse einige unserer Begegnungen Revue passieren. Ich habe Dorothea sehr gemocht und auf gemeinsamen Spaziergängen viel von ihr gelernt. Gundermann erkenne ich erst, seit sie ihn mir gezeigt hat. Vieles lernt man nicht aus Büchern, sondern wenn jemand, den man mag, ihm einen Namen gibt. G lebt vorerst allein im einst von beiden gemeinsam bewohnten Haus. Demnächst wird allerdings ihre Tochter und deren Tochter bei ihm einziehen. Er ist gespannt, ob dieses Drei-Generationen-Experiment funktionieren wird. Sein Leibarzt habe unlängst zu ihm gesagt, dass man, wenn man über achtzig Jahre alt sei, besser nicht allein leben solle. G hat einen Tee aufgebrüht und wir unterhalten uns angeregt über dies und das, zum Beispiel über Donald Trump und seine Zölle. Auch G fürchtet, dass 2029 die Stunde der AfD schlagen könnte. Schon jetzt liegt die Partei in Umfragen beinahe gleichauf mit der CDU. Uns graut beiden vor dieser Perspektive, und wir trauen der neuen Regierung, die sich in Berlin gerade bildet, nicht zu, etwas Wirksames dagegen aufbieten zu können. Wir sprechen über unsere Rezepte für Grüne Soße, die traditionell an Gründonnerstag gegessen wird. G will mir zeigen, was sein Garten dafür bereits hergibt: Bärlauch, Gundermann, Löwenzahn, Brennnesseln, Sauerampfer, Schnittlauch,   Liebstöckel und die ersten Blätter Zitronenmelisse, Spitzwegerich, Knoblauchrauke und natürlich der unverwüstliche Giersch. G erinnert sich, dass ich Dorothea und ihm vor Jahren einmal ein „giersch“ (klein geschrieben) betiteltes Gedicht von Jan Wagner geschickt habe, das ihnen gut gefallen hat. Kaum hat G die Balkontür geöffnet, brüllt der Esel eine Begrüßung zum Haus hinauf. Der Esel heiß Jakob und ist eselgemäß stur und eigensinnig. Als G das Gatter öffnet und ihn auffordert, mit uns ein paar Schritte auf die benachbarte Wiese zu gehen, weigert er sich beharrlich, uns zu begleiten. Als wir außer Sich sind, ruft er nach G und entschließt sich dann doch, uns zu folgen. Auf der angrenzenden Wiese grasen G‘s Schafe, die demnächst geschoren werden. Nachdem wir auch denen einen Besuch abgestattet haben, gehen wir ins Haus zurück. Für mich wird es langsam Zeit, den Heimweg anzutreten. Über den Feldern rund ums Dorf stehen Lerchen flatternd im blauen Himmel und trällern ihr quirlendes Lied, das wie kein anderes vom Frühling kündet.

*

Erst kündigt man Geschwindigkeitskontrollen Tage vor der geplanten bundesweiten Blitz-Aktion groß an, dann vermeldet man: Wenige Raser unterwegs! Alles andere wäre unter diesen Umständen verwunderlich, an der Nachhaltigkeit dieses Erfolges darf allerdings gezweifelt werden. Man bremst dort, wo geblitzt wird, und geht kurz darauf wieder aufs Gas. Dieses Vorgehen begünstigt Haltungen, Moral auf jenes Minimum zu reduzieren, das gerade noch vor strafrechtlicher Verfolgung schützt. Droht diese nicht, lässt man den lieben Gott einen guten Mann sein und tut, was man will. Moralisch wäre ein Handeln zu nennen, das Regeln und sittliche Normen auch dann berücksichtigt, wenn niemand deren Einhaltung kontrolliert. Auf unser Thema bezogen: Man sollte innerstädtisch höchstens 50 Stundenkilometer fahren, auch wenn nicht geblitzt wird. Es ist ein Gebot der Vernunft.

*

Donald Trump hat seine mit großem Aplomb verkündeten Zölle gegen die meisten Länder – mit Ausnahme von China – nach gut einer Woche wieder zurückgenommen. Was auf den ersten Blick aussieht wie ein Beispiel für seinen erratischen Politikstil, könnte sich bei genauerem Hinsehen als Umsetzung des Imperativs von François Guizot, dem französischen Innenminister unter Louis-Philippe I., „Enrichissez-vous – bereichert euch!“ erweisen. Nach Trumps Verkündigung der Zölle fielen die Aktienkurse kräftig. Prompt forderte er seine Landsleute auf: „Kauft!“ Nach der Rücknahme der Zölle schossen die Aktienkurse erwartbar in die Höhe und Trump ließ die spontane Bereicherungsaktion seiner reichen Freunde und Unterstützer als „größte wirtschaftliche Meisterleistung eines amerikanischen Präsidenten in der Geschichte“ feiern. Die gegen Trump nun erhobenen Vorwürfe der Marktmanipulation und Vorteilsnahme im Amt werden ins Leere gehen und diesbezügliche Ermittlungen im Sande verlaufen. Er hat ja ohnehin vom obersten Gericht einen Freibrief für alle im Amt begangenen Straftaten erhalten. Die Führungsriege der USA pflegt insgesamt einen eigenartigen Politikstil. So trat Elon Musk in Wisconsin im Wahlkampf um die Besetzung eines Richteramtes im dortigen Supreme Court mit einem Käsehut auf und verteilte Schecks an potenzielle Wähler. Die Welt wird von Irren regiert, aber leider von gefährlichen Irren. Thomas Pynchon hat in seinem 1981 erschienenen Roman „Die Enden der Parabel“ den Spätkapitalismus als ein sich selbst steuerndes, gesichtsloses System beschrieben, das Pynchon die „Firma“ oder das „System“ nennt, dessen Repräsentanten er mit dem pluralischen Personalpronomen „Sie“ kennzeichnet. Innerhalb des Systems zu leben sei „wie eine Überlandfahrt in einem Bus, der von einem Wahnsinnigen gesteuert wird, der seinen Selbstmord plant … obwohl er ein netter Kerl ist und ständig Witze über den Lautsprecher lässt.“ Lässt sich unsere heutige Situation treffender beschreiben?

*

„Wir hatten uns beide das sogenannte Begrüßungsgeld abgeholt, die hundert West, und übelegten den ganzen Abend, was wir uns für das schöne Westgeld kaufen. Und was haben wir gekauft, Frau Emser? Letztendlich einen Strick.“

(Christoph Hein)

Meine Lektüre am Edersee bestand aus Christoph Heins Roman „Das Narrenschiff“. Hein zeichnet ein Panorama der DDR-Gesellschaft von 1945 bis zu ihrem Ende. Ich dachte mitten in der Lektüre irgendwann mal, dass eine gewisse Analogie zwischen Heins Buchprojekt und Werner Tübkes Bauernkriegspanorama existiert, der in diesem riesigen Gemälde der Versuch unternommen hat, die Ereignisse des Bauernkriegs, der sich dieses Jahr zum 500. Mal jährt, zu bebildern. Hein macht uns mit rund ein Dutzend Menschen unterschiedlicher Herkunft und Profession bekannt, entlang von deren Geschichte er die Geschichte der DDR entfaltet. Breiten Raum nimmt die Schilderung des stalinistischen Systems und der Zwänge ein, in die auch die Funktionsträger des Systems eingespannt waren. Ein gut und handwerklich sauber gearbeiteter Roman von beinahe 750 Seiten Länge, der nie langweilig ist und ohne Mätzchen und Firlefanz auskommt. Gerade für uns mit der Geschichte der DDR nicht so vertrauten „Westler“ ist der Roman von Hein eine wichtige und lehrreiche Lektüre. Ich sah mit Sorge, wie der noch zur Lektüre verbleibende Teil des Romans immer weniger wurde. Ein größeres Kompliment kann man einem Buch und einem Autor kaum machen.

U las mir zwischendurch immer mal ein Kapitel aus Dimitrij Kapitelmans neuem Buch „Russische Spezialitäten“ vor, in dem er auf teilweise grotesk-komische Weise vom Leben einer jüdisch-ukrainischen Familie erzählt, die nach der Flucht aus Kyjiw in Leipzig mit russischen Spezialitäten handelt. Seit ich vor Jahren Kapitelmans Roman „Eine Formalie in Kiew“ gelesen habe, hat er bei mir einen dicken Stein im Brett, wie man so sagt. Wenn man Kapitelman heißt, bleibt einem ja eigentlich nichts anderes übrig, als Schriftsteller zu werden. In seinem Fall auch noch ein guter.

*

Als wir ab einem unserer Tage vom Dorf aus zum See hinuntergingen, sahen wir drei Rehe, die uns in aller Ruhe und unaufgeregt beäugten. Drei Rehköpfe mitRehaugen, die über einen niedrigen Holzstoß hinauslugten. Irgendwann gingen sie ihrer Wege. Das erste Pfauenauge der Saison taumelte vorüber. U pflückte eine Handvoll tiefblauer Veilchen und gab mir sieben Blüten zu Essen: „Für ewige Jugend“, fügte sie zur Erklärung hinzu. Das hat sie mal in irgendeinem Roman gelesen und es ist zwischen uns zu einem steten Frühlingsbrauch geworden. Hummeln summten und brummten und waren dick mit Nektar bepackt. Ein Rotmilan lag im Wind und zog am Himmel seine Kreise. Seine Silhouette versetzte die kleineren Vögel am Boden in Panik. Noch finden sie keinen Schutz im Laub der Bäume, das sie den scharfen Blicken des Raubvogels entziehen könnte. U war so mutig, bei sechs Grad Wassertemperatur ein paar Züge zu schwimmen. Als die Kälte sie packte, ging es ihr beinahe zu langsam, aus dem Wasser herauszukommen. Aber sie war stolz wie Bolle, es geschafft zu haben, und genoss das Kribbeln auf der Haut. Ich saß blasiert am Ufer und schaute ihr zu. Wegen meines Harzkaspers hat man mir von solchen Eskapaden abgeraten. Ich werde mit dem ersten Bad noch eine Weile warten müssen. Als wir zum Dorf zurückkehrten, stellten wir fest, dass die ersten Schwalben zurückgekehrt waren und über die Dächer schwirrten.

*

Am nächsten Morgen entdeckte ich die ersten aus dem Süden zurückgekehrten Falken des Jahres. Sie saßen auf den Spitzen zweier Tannen, die neben dem Feuerwehrhaus stehen. Von dort aus hatten sie einen guten Blick auf das Geschehen rund herum und auf mögliche Beute. Ich sah, wie der männliche Teil des Paares zum Weibchen hinüberflatterte und es begattete, oder sollte man in diesem Fall besser sagen: vögelte. Das ging so schnell, dass man es kaum mitbekam. Ein paar Flügelschläge über dem Weibchen und schon war es vorbei. Wo die beiden nisten, konnte ich nicht herausfinden. Ich bin gespannt auf die nächste Generation Falken, die für mich zu den faszinierendsten Vögeln gehören. Die britische Schriftstellerin und Naturforscherin Helen Macdonald hat den Falken ein ganzes und sehr spannendes Buch gewidmet.

*

An einem unserer Tage am Edersee unternahmen wir unseren traditionellen Ausflug nach Bad Wildungen. Auch in Bad Wildungen sind überall Baustellen und Absperrungen. Selbst in der und um die Stadtkirche herum wird gearbeitet und renoviert. Deswegen fiel unser Besuch in der Kirche kürzer aus als sonst. Eine gelangweilte ehrenamtliche Mitarbeiterin der Gemeinde erzählte uns etwas zur Geschichte der Kirche und des Altars von Conrad von Soest aus dem Jahr 1403. Auch in der Buchhandlung waren Handwerker zugange, so dass wir auch dort nicht lang blieben. Da wir dieses Jahr noch kein Eis gegessen hatten, erinnerten wir uns an eine Eisdiele in der Brunnenallee. Wir setzten uns mit unseren Waffeln draußen in der Sonne auf eine Bank. In einer schier endlosen Prozession zogen Patienten aus den umliegenden Kliniken an ihren Rollatoren an uns vorüber. Ein Asiate fuhr auf einem E-Scooter vorbei und lieferte irgendwelchen Scheiß an Kunden aus. Auf dem Rückweg zum Auto erstand U einen vegetarischen Döner und wir hockten uns, während sie den aß, in der Nähe des Rathauses auf eine Bank. Wir saßen ins der trostlosesten Ecke der Stadt. Hier sieht es so aus, wie in Kleinstädten der DDR kurz nach der sogenannten Wende. Alles zerfällt und zerbröselt. Ein Schwarzer stand vor einem Kiosk und versuchte Drogen an den Mann zu bringen. Geräuschvoll würgte er etwas aus seinen Bronchien hoch und ließ den Auswurf mit vorgebeugtem Rumpf an einem Speichelfaden langsam zu Boden sinken, um ihn dann auf dem Pflaster mit dem rechten Schuh zu zertreten. Dann ging er zum Eingang zurück und nahm auf einem dort stehenden Hocker platz. Kellner, die nichts zu tun hatten, saßen vor den Lokalen und wischten auf ihren Handys herum. Ihre Beine zuckten. Irgendwo kläffte ein Hund. Über der Tür einer Kneipe, die längst aufgegeben worden ist, war über dem Eingang ein brauner Plastikstuhl an die Wand genagelt. Das Lokal hieß mal „Schlapps Kneipe“, wie man auf einem langsam verwitternden Schild gerade noch lesen konnte. Der Rest ihres Döners wickelte U in die Alu-Folie und verstaute ihn im Rucksack. Später aß sie noch etwas von der Füllung, den Teig drum herum warf sie weg. Wir fuhren dann zurück in unser Dorf, wo die Welt noch halbwegs in Ordnung zu sein scheint und es ruhig ist. Von irgendwoher erklang der melancholische Pfiff eines Schwarzspechts.

Am Karfreitag fuhren wir zurück nach Gießen, wo die Rechnungen im Briefkasten lagen. 

***

Vor 80 Jahren, am 19. April 1945, legten überlebende Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald im Rahmen einer Gedenkfeier an die im Lager ums Leben Gekommenen folgendes Gelöbnis ab: „Wir werden den Kampf erst aufgeben, wenn der letzte Schuldige vom Gericht aller Nationen verurteilt ist. – Die endgültige Zerschmetterung des Nazismus ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ideal.“ Leider ist Vieles von dem bis heute nicht eingelöst und harrt noch immer der Erfüllung. Heute mehr denn je.

***

Gerade als ich am Ostersonntag das Haus verlassen wollte, um in den Botanischen Garten zu gehen, zog über der Johanniskirche das erste Gewitter des Jahres auf. Ich gab mein Vorhaben auf und kehrte zu meiner Lektüre zurück, die leider nicht mehr aus Heins Buch „Das Narrenschiff“ besteht. Nach Beendigung einer derart langwierigen, intensiven und fesselnden Lektüre tritt bei mir stets eine gewisse Leere ein, die irgendwann mit einem neuen Buch gefüllt werden muss, das aber noch nicht in Sicht ist. Einstweilen werden Reste „aufgelesen“, angefangene Bücher, die ich nicht zu Ende gelesen und zur Seite gelegt habe.

***

Als Christa Wolf Anfang der 1990er Jahre einige Zeit in den USA verbrachte, rief sie im Kontext einer Recherche über eine Emigrantin aus Nazi-Deutschland ihren Freund Peter Gutman an und fragte ihn, wie es dazu gekommen sei, dass „unsere Zivilisation Monster hervorbringt. Verhindertes Leben, sagte er. Was sonst. Verhindertes Leben.“ Das niedergedrückte und an der Entfaltug gehinderte Leben sinnt auf Rache, geübt meist an den Falschen: an Sündenböcken.

***

Siro Hustvedt hat Recht behalten: Inzwischen gehen immer mehr Menschen in immer mehr amerikanischen Städten gegen die Politik von Trump und Musk auf die Straßen. Offenbar hat die Opposition eine Weile gebraucht, um sich vom Schock der Wiederwahl zu erholen und wieder zu Kräften zu kommen. Nach Trumps Amtsantritt erstarrte die Opposition zunächst wie das Kaninchen vor der Schlange. Nun löst sich die Starre und sie geht gegen die Schlange vor.

***

Gestern Abend sah ich auf DVD den Film „Abschied – Brechts letzter Sommer“. Der Film von Jan Schütte aus dem Jahr 2000 zeigt den letzten Tag eines Urlaubs, den Brecht, beobachtet von der Staatssicherheit, mit seiner Entourage im brandenburgischen Buckow verbringt. Zu dieser Entourage gehört neben Brechts Frauen auch Wolfgang Harich, auf den die Stasi es besonders abgesehen hat und der am Endes des Films verhaftet wird. Harich wurde 1957 nach einem groß in Szene gesetzten Prozess wegen „Bildung einer konspirativen staatsfeindlichen Gruppe“ zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Im Film wird irgendwann Brechts legendäre Kappe vermisst. Seine Tochter Barbara hatte diese, weil sie sie als verschlissen und eine olfaktorische Zumutung empfand, verbrannt. Immer wieder fragt der schwer herzkranke Brecht, wunderbar gespielt von Sepp Bierbichler, der ja von seiner Statur her keinerlei Ähnlichkeit mit Brecht aufweist, nach seiner Kappe. Diese kleine Idiosynkrasie machte mir den Meister sehr sympathisch. Helene Weigel nimmt, um die Tochter vor Brechts Zorn zu schützen, die Vernichtung der Kappe schließlich auf ihre Kappe. Am Ende werden die Koffer gepackt und Brecht kehrt noch einmal für ein paar Tage nach Berlin zurück, wo er vier Tage später an einem Herzinfarkt verstirbt. Dieses Ende wegen einer Herzschwäche hat mich besonders berührt, da ich ja vor einem halben Jahr auch einen Infarkt erlitten habe. Das ist leider aber auch die einzige Ähnlichkeit zwischen Brecht und mir.

***

„Es heißt, dass man eine Nation erst dann wirklich kennt, wenn man in ihren Gefängnissen gewesen ist. Eine Nation sollte nicht danach beurteilt werden, wie sie ihre höchsten Bürger behandelt, sondern ihre niedrigsten.“

(Nelson Mandela)

Nachdem Franziskus am Ostersonntag in Rom noch der Segen „Urbi et Orbi“ gespendet hatte, ist er  Stunden später im Alter von 88 Jahren gestorben. Am Gründonnerstag hatte er zum wiederholten Male ein römisches Gefängnis besucht und war dort mit rund 70 Häftlinge verschiedener Nationalitäten zusammengetroffen. Damit hat er noch einmal sein Verständnis von Christentum zum Ausdruck gebracht, das es mit den „Erniedrigten und Beleidigten“ hält – und nicht mit den Reichen und Mächtigen.

Wer über neue Texte informiert werden möchte, kann hier den Newsletter abonnieren.

Erforderlich ist lediglich die E-Mail-Adresse. Die Angabe von Vor- und Zuname ist freiwillig.