110 | Der rechte Populismus und das Bedürfnis nach Nicht-Veränderung

„Wir dürfen nicht warten, bis das Gemeinwesen verrottet ist und die moralische Verkrüppelung ein gesellschaftliches Betriebsklima geschaffen hat, das die Mühe um Anstand und politische Urteilskraft immer beschwerlicher und vielfach aussichtslos werden lässt.“

(Oskar Negt: Erfahrungsspuren)

Gelegentlich bekomme ich Einladungen zu Veranstaltungen, die so formuliert sind, dass ich mich gleich wieder ausgeladen fühle. Zum Beispiel heißt es, man wolle zum Jahresende noch einmal ins Gespräch kommen und Gedanken austauschen: „Das geeignete Format dazu heißt ein weiteres Mal – Open Space. Es gibt 3 Zeitslots à 30 Minuten …“ Bei einer anderen Veranstaltung möchte man mit einem „Fishbowl“ beginnen. Das ist nicht etwa eine delikate Fischbowle, wie sie in Grönland getrunken werden mag, sondern eine besonders ausgefuchste und reichlich komplizierte Diskussionsmethode. Auf solche Mätzchen habe ich keine Lust, und so bleibe ich lieber zu Hause und denke mir meinen Teil.

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Die gebenedeiten Karikaturisten, die uns unter dem Künstlernamen „Rattelschneck“ allwöchentlich in der Süddeutschen Zeitung mit einem Cartoon erfreuen, zeigen diese Woche zwei ältere Damen mit Einkaufstrolleys, die sich auf dem Gehweg getroffen haben und neben einem am Boden hockenden Bettler stehen. Die eine sagt: „Christian Lindner wird Vater.“ Die andere quittiert diese Mitteilung mit der trockenen Bemerkung: „Hoffentlich weiß das Kind noch nichts davon.“

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Heute wollte ich mit dem Rad zum Alten Friedhof fahren. Nach ein paar hundert Metern begegnete mir die Frau eines Freundes, der vor etwa zwei Jahren gestorben ist. Ich hielt an und wir sprachen miteinander. Ihre Einsamkeit war deutlich spürbar und teilte sich mir mit. Wir beschlossen, ein paar Schritte gemeinsam zu tun. Ich stellte mein Rad am Uni-Hauptgebäude ab und wir gingen zu Fuß weiter. Wir waren keine fünfhundert Meter gegangen, da meldete sich ihr Telefon. Ihre Tochter wartete mit der Enkelin auf dem Weihnachtsmarkt. So trennten sich unsere Wege bereits wieder und ich ging den Rest des Weges allein zum Alten Friedhof. Es ist immer ein besonderer Moment, die eiserne Pforte zu öffnen und in die Atmosphäre des Friedhofs einzutreten. Bei gutem Wetter waren recht viele Menschen unterwegs. Mein Ziel war die Bank an Röntgens Grab, mit der die Leserinnen und Leser der DHP bereits vertraut sind. Ich hatte die Tasche voller Nüsse und hoffte, Abnehmer dafür zu finden. Kaum saß ich, da tauchten die ersten neugierigen Eichhörnchen auf. Manche trauten sich nicht ganz so dicht an mich heran und ich rollte ihnen die Nüsse auf dem Boden vor der Bank zu, andere kannten keine Scheu und sprangen neben mir auf die Bank und nahmen die Nüsse aus meiner Hand entgegen, wobei sie mit ihren Pfötchen meine Hand berührten und sich dort abstützten. Nicht alle Nachbarn waren willkommen, Eindringlinge aus anderen Revieren wurden fauchend vertrieben: „Das ist unser Nusslieferant!“ Als meine vielleicht fünfundzwanzig Nüsse verteilt waren, klopften die kesseren Eichhörnchen auf meine Arm, um Nachschub einzufordern. Um nicht ständig aufs Neue Enttäuschung hervorzurufen, stand ich auf und ging weiter. Auf einer Wiese im oberen Teil des Friedhofs absolvierte ich ein kleines Gymnastikprogramm, dann wandte ich mich dem Ausgang zu und ging nach Hause. Nicht ohne unterwegs mein Fahrrad abzuholen, das erfreulicherweise noch da stand, wo ich es abgestellt hatte, was ja so selbstverständlich nicht ist. In alten Filmen sieht man manchmal, wie Menschen ihre Räder vor der Haustür an die Wand lehnten, im Vertrauen darauf, es später noch dort vorzufinden. Räder besaßen zu jener Zeit nicht unbedingt Schlösser, und man konnte sich in der Regel auf die Ehrlichkeit seiner Mitmenschen verlassen. Die Grenzen zwischen mein und dein waren streng gezogen und verinnerlicht und wurden von den meisten respektiert. Es gab Ausnahmen, aber diese blieben eben Ausnahmen, die die Regel bestätigten.

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Assad ist von den vorrückenden Rebellen-Milizen gestürzt worden und hat sich ins Moskauer Exil zurückgezogen und unter die Fittiche von Putin begeben. Sogleich stellt sich die bange Frage: Was wird jetzt aus Syrien? Wir haben so viele Diktaturen stürzen sehen, häufig wurde in der Folge ein furchtbares Regime von einem noch furchtbareren abgelöst, die Menschen kamen, wie man so sagt, vom Regen in die Traufe. Hinter der Fröhlichkeit und Freude, die am Wochenende auf den Straßen und Plätzen überall in Europa zu sehen waren, lauern Enttäuschungen und neue Gewalt. Viele in den letzten Jahren aus Syrien geflohene Menschen träumen von einer Rückkehr in ihre Heimat, wollen aber noch warten und aus sicherer Entfernung beobachten, wie sich die Lage entwickelt. Syrien ist geopolitisch und geostrategisch zu bedeutsam, als dass ihm verschiedene Akteure Zeit lassen könnten, seinen eigenen Weg zu finden. Das entstandene Vakuum wird also rasch gefüllt werden. Aber mit was? Und von wem? Als Sieger geriert sich einstweilen Muhammad al-Dscholani, der Chef der islamistischen HTS-Miliz. Er erinnert vom Typus her an den tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow, der ein enger Verbündeter von Putin ist. Hoffen wir, dass die Ähnlichkeit nur äußerlich ist. Einstweilen tritt al-Dscholani moderat und kompromissbereit auf, was sonst die Sache von Fanatikern und Islamisten nicht ist. Bilder von bewaffneten Kämpfern, die von der Ladefläche eines Lastwagens herab den Koran verteilen, lassen nichts Gutes erwarten. Auch dass al-Dscholani seine erste Rede nach dem Sturz des Assad-Regimes in einer Moschee gehalten hat, lässt mich seinen Lippenbekenntnissen zu Toleranz und Minderheitenrechten nicht recht trauen. Manches erinnert an den Verlauf des sogenannten arabischen Frühlings von 2011, der ja auch zu Beginn von großen Hoffnungen auf Befreiung getragen war, die dann bald von islamistischen Regimes und neuem Terror erstickt wurden. Die Gefängnisse füllten sich erneut – mit anderen Insassen. Gefoltert werden nun andere. Es ist widerlich und beschämend, dass Spahn und andere bereits einen Tag nach Assads Sturz die Abschiebung von nach Deutschland geflüchteten Syrerinnen und Syrern fordern.

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Bei jedem Gang durch die adventlich rausgeputzte Fußgängerzone frage ich mich, was die Menschen, denen ich dort begegne, eigentlich verbindet. Die Weihnachtsdekorationen machen die trostlose Atmosphäre nur noch spürbarer. Die Menschen hetzen herum, gehen von hier nach dort, sprechen ganz verschiedene Sprachen, stammen aus gänzlich verschiedenen Kulturen. Ich sehe nichts als eilige Konsumenten. Kinder schreien aggressiv, weil ihnen ihre Erwachsenen einen Wunsch versagt haben. Die Smartphone-Gänger wirken wie Somnambule. Sie sind mit irgendwem und irgendwas verbunden, nur nicht mit den Menschen um sie herum. Niemand hat mit niemand etwas am Hut, lauter isolierte Sozialatome. Schon Blickkontakt ist gefährlich und wird weitgehend gemieden. Was ich von den Menschen sehe, sind müde Gesichter und eine aggressive Gereiztheit. Jeden Augenblick könnte jemand ein Messer hervorziehen und blindlings auf andere einstechen. Nur so. Sie wissen nicht einmal, was sie vermissen könnten, das macht sie traum- und sehnsuchtslos. Sie interessieren sich für nichts außer der Frage, wo es die billigste Tiefkühlpizza gibt, wo sie ihr Auto parken können und um diese Jahreszeit, wo sie irgendwelche Geschenke herbekommen, die kein Mensch benötigt und die möglichst bald weitergereicht werden. Mit den anderen und dem Ganzen der Gesellschaft sind sie nicht verbunden. Wie soll so etwas auf Dauer funktionieren? Solange die Menschen sich noch nicht zu Automaten entwickelt haben, die auf digitale Kommandos zuverlässig reagieren, braucht die Gesellschaft irgendein moralisches Minimum. Eines nicht mehr fernen Tages werden die konformen Reaktionen mehr oder weniger automatisch erzeugt, und jenseits dessen beginnt sogleich die Kriminalität. Moral wird also tendenziell überflüssig. Gegenwärtig befinden wir uns in einer Zwischenperiode, in der das Gewissen der Leute nicht mehr wirksam genug ist, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gewährleisten, und die digitalen Kontrollsysteme noch nicht weit genug gediehen sind, dass das Ganze gleichsam automatisch funktioniert. Wenn alles den Fluss des nomadisierenden Kapitals und der Finanzmärkte Hemmende beseitigt ist, wird auch alles die Gesellschaft Stützende vernichtet sein und alles muss mehr oder weniger künstlich und gewaltförmig zusammengehalten werden.

Wenn über Leitbilder oder Leitkultur geredet wird, ist es bereits zu spät. Das sind alles Reparaturbegriffe, die etwas Zerfallenes künstlich wiederherstellen sollen. Was soll denn den Zusammenhalt stiften? Was hält eine Gesellschaft zusammen? Jeder konsumiert für sich allein. Im Rahmen einer betriebswirtschaftlichen Logik, deren Ausdehnung auf die Gesamtgesellschaft letztlich für den Zerfall verantwortlich ist, ist das Zerfallende auf keinen Fall wiederzubeleben.

Passend zur ohnehin trostlosen Atmoshäre steigert sich heute das Heulen der Martinshörner wieder einmal zum Paroxysmus. Gerade las ich in einer Gießener Tageszeitung, dass 2023 in deutschen Krankenhäusern mehr als zwölf Millionen ambulante Notfälle behandelt wurden. Das ist der höchste Stand, seit man diese Zahlen erfasst. Der Großteil dieser Patienten wird von Rettungswagen in die jeweilige Klinik transportiert – mit Blaulicht und Sirene. Über die Gründe für diesen Anstieg sagt der Artikel nichts.

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Gestern sah ich spätabends in der Glotze den Film „Herbert“, dessen Drehbuch der Regisseur Thomas Stuber zusammen mit dem Leipziger Autor Clemens Meyer geschrieben hat, der in der DHP verschiedentlich aufgetaucht ist und den ich sehr schätze. Peter Kurth spielt den alternden Boxer Herbert, der einst eine Legende war, für den aber nun kein Bedarf mehr besteht. Herbert ist in die Jahre gekommen und leidet obendrein unter ALS, einem tödlich verlaufenden Muskelschwund. Er verdient seinen Lebensunterhalt im Dienst eines windigen Inkasso-Unternehmens und als Türsteher, bis auch das nicht mehr funktioniert, weil ihn keiner mehr Ernst nimmt. Er kann sich schließlich nur noch in einem Rollstuhl fortbewegen und fällt mehr und mehr aus der Welt und seiner Ordnung der Dinge. Seiner Tochter Sandra hat er sich während seines längeren Gefängnisaufenthalts entfremdet und versucht nun, wieder in Kontakt mir ihr und die Enkelin Ronja kennenzulernen. Auf Seiten der Tochter haben sich viele Verletzungen angesammelt, und die reagiert eher kühl auf Herberts Kontaktversuche. Der körperliche Verfall von Herbert und sein Sturz aus der Welt haben mal wieder meinen Nachtschlaf arg verkürzt und mich sehr mitgenommen. Lange lag ich wach und wälzte mich aus einer unbequemen Lage in die nächste. Meine eigene zunehmende körperliche Hinfälligkeit stiftete eine Nähe zum Boxer Herbert, in dessen Niedergang ich eine filmische Prophezeiung meiner eigenen Zukunft erblickte. Wie Peter Kurth die Verwandlung des kraftstrotzenden Boxers Herbert in ein menschliches Wrack spielt, verdient allergrößten Respekt.

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Heute vor 68 Jahren heiratete mein Vater meine Stiefmutter Roswitha. Für mich war diese Heirat ein Unglück, und ich hatte um den 12. Dezember herum jahrelang rasende Kopfschmerzen. Als ich im Kontext meines Studiums Veranstaltungen über psychosomatische Medizin besuchte, ging mir ein Licht auf und ich lernte, die chiffrierte Sprache der Symptome einigermaßen zu verstehen und zu deuten. Meine vorweihnachtlichen Kopfscherzen traten seither nicht mehr oder nur noch abgeschwächt und in erträglicher Form auf. Andere Symptome blieben, vor allem die Angst, die immer schon da war und wahrscheinlich immer bleiben wird. Für sie kann Roswitha nichts, sie hat sie allenfalls verstärkt und nichts unternommen, um sie zu beheben. Wie Kafka einmal Milena gegenüber bekennt: Ich bestehe aus nichts anderen als – Angst. Aus ihr Literatur zu machen, ist mein Versuch, mich mit ihr ins Benehmen zu setzen und einen modus vivendi zu finden. Mein reduziertes Überleben hängt am seidenen Faden des Schreibens. Ich gehöre nicht dazu und werfe einen verfremdeten Blick auf das Leben der anderen. Das ist meine Form der Weltteilnahme, alle anderen Zugänge sind mir verwehrt.

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Wir waren gestern in Lich im Kino Traumstern und sahen den Film „The Outrun“ mit der grandios spielenden irisch-amerikanischen Schauspielerin Saoirse Ronan. Der Film basiert auf den Erinnerungen von Amy Liptrot, die auf den schottischen Orkney-Inseln geboren wurde und offen über ihre Alkoholabhängigkeit schrieb. Die Hauptfigur Rona, die in London lebt und Biologie zu studieren versucht, erlebt grauenhafte Alkoholexzesse und Abstürze, die manchmal lebensbedrohlich sind und ihre Beziehungen ruinieren. Irgendwann beschließt sie, auf die schottischen Orkney-Inseln zurückzukehren, nachdem sie mehr als ein Jahrzehnt weg war. Ihre Eltern leben noch dort – allerdings getrennt voneinander. Die Mutter sucht und findet Halt in der Religion, mit der die Tochter nichts anfangen kann. Der Vater leidet unter dem, was man neuerdings eine bipolare Störung nennt. Phasen manischer Aktivität wechseln mit tiefen Abstürzen in die Depression. Rona erhält von einer Vogelschutzbehörde den Auftrag, die Insel auf die Existenz von Wachtelkönigen abzusuchen, eine vom Aussterben bedrohte Vogelart. Tagelang zieht sie bei Wind und Wetter über die einsame Insel und lauscht auf den Ruf des Wachtelkönigs, den sie sich bei Youtube angehört hat, ohne je eine Spur von dem Vogel zu finden oder auch nur seinen Ruf zu vernehmen. Sie hat viel Zeit, über sich und ihr bislang reichlich verkorkstes Leben nachzudenken. Sie hat eine kleine Hütte gemietet, wo sie sich und ihrer Vergangenheit in wilden Bildern und Episoden begegnet. Der Soundtrack des Films mischt das Tosen der Brandung und das Donnern riesiger Wellen mit den Techno-Rhythmen ihrer Vergangenheit in Londoner Clubs, wo sich ihr Absturz vollzog. Sie ist bleibt trocken und es geht ihr leib-seelisch zunehmend besser. Am Ende ist sie so weit, sich die Rückkehr nach London zuzutrauen. Als sie die Hütte verlassen und den Schlüssel abgegeben hat, vernimmt die das erste und einzige Mal den Ruf eines Wachtelkönigs. Das ist wie ein Hohn, aber auch ein Symbol dafür, dass Besserung möglich ist und das Leben weitergeht. Ein toller, ein sehenswerter Film – mit einer großartigen Hauptdarstellerin.

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Die FIFA hat die Fußball-WM 2034 an Saudi-Arabien vergeben. Kronprinz Mohammed bin Salman und vor allem Gianni Infantino haben die Vergabe geschickt eingefädelt. Sie sind auf keinen nennenswerten Widerstand gestoßen, ihre Entscheidung wurde glatt durchgewunken. DFB-Chef Neuendorf verhielt sich wachsweich – wie immer. Er wisse, dass die Menschenrechtslage in diesem Land problematisch sei und „einige Defizite“ aufweiste, aber in den bis zur WM verbleibenden zehn Jahren könne sich ja auch noch etwas zum Positiven hin verändern. In Saudi-Arabien herrscht Mohammed bin Salman mit absoluter Macht. Kritische Journalisten und Regimegegner werden verfolgt, Streiks, Demonstrationen und politische Parteien sind verboten. Es herrscht im Land ein Klima der Angst und Einschüchterung. Das Land belegt im Jahr 2024 Platz 166 von 180 in der Rangliste der Pressefreiheit, die von „Reporter ohne Grenzen“ erstellt wird, und gehört zu den Ländern mit den größten Einschränkungen der Meinungsfreiheit weltweit. Es gibt keine unabhängigen Medien. Menschenrechtsorganisationen kritisieren die häufigen und unfairen Gerichtsverfahren. Allein 2023 hat das Regime mindestens 170 Menschen hinrichten lassen. Der Fall des Mordes an dem regierungskritischen Journalisten Jamal Khashoggi im Jahr 2018 in Istanbul, bei dem Hinweise auf eine Beteiligung des Kronprinzen vorliegen, verstärkte die internationale Kritik an der saudischen Führung. Über all das sieht Bernd Neuendorf großzügig hinweg. Deutschland laufe, wenn es sich klar gegen das Regime positioniere, Gefahr, sich zu isolieren. Es ist eine Schande. Eine gute Entscheidung wäre es gewesen, die Veranstaltung zu boykottieren und in Europa in kleinerem Rahmen eine Art Gegen-WM demokratisch verfasster Länder zu veranstalten und als ein Fest der Freiheit mit viel Kultur im Beiprogramm zu gestalten. Das wäre eine angemessene Reaktion auf die obszöne und gigantomanische Inszenierung von Infantino, bin Salman und dem großen Geld. „Macht eure WM alleine“, hätte die Losung sein müssen, begleitet von einem in Richtung der Veranstalter gerecktem Stinkefinger. Auch die WM 2030 ist von der Gigantomanie und der Geldgier geprägt. Sie soll erstmals auf drei Kontinenten ausgetragen werden, was irrsinnige Reisekosten und Umweltschäden nach sich ziehen wird. Das alles hat mit der ursprünglichen Idee des Fußballsports nichts mehr zu tun, den die fußballbegeisterten Menschen der FIFA und den Funktionären vindizieren und in eigene Regie nehmen sollten.

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Vor der Bäckerei staksen Tauben mit ruckenden Köpfen umher in der Hoffnung, zu Boden gefallene Krümel zu ergattern oder etwas zugeworfen zu bekommen. Als ich nach dem Einkauf von Kürbiskernbrötchen, die dieser Bäcker in hervorragender Qualität herstellt, den Einkauf an den Lenker gehängt hatte und mein Rad wegschob, trippelte eine Taube sehr gekonnt zwischen Vorder- und Hinterrad hindurch. Die Tauben haben im Dienst des Überlebens in der Stadt jede Scheu fallengelassen und sich allerhand Techniken und Tricks angeeignet. Vor allem müssen sie ständig irgendwelchen Kindern ausweichen, die hinter ihnen her rennen und nach ihnen treten. Ich war schwer beeindruckt und hätte ihr gern etwas hingeworfen, hatte aber nichts zur Hand. Dafür steckte ich einem lesenden und Pfeife rauchenden Bettler einen Geldschein in den aufgestellten Becher. Er schien keine Notiz von mir zu nehmen und las weiter. Sein Stoizismus beeindruckte mich. So ähnlich hätte sich auch Diogenes verhalten, dachte ich.

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Selbst am Samstag wird man von Bohr- und Klopfgeräuschen aus dem Schlaf gerissen. Der Samstag ist ein stinknormaler Arbeitstag geworden. Als ich aufwuchs wurde die 40-Stunden- und 5-Tage-Arbeitswoche eingeführt, um die die Gewerkschaften mit dem Slogan „Samstags gehört Vati mir“ jahrelang gekämpft hatten. Am Samstag waren Geschäfte bis 14 Uhr geöffnet, Angestellte und Arbeiter hatten seit 1956 frei. Samstagsunterricht an staatlichen Schulen gab es bis 1972, dann begann auch für Schüler das Wochenende bereits am Freitag. Seit dem 1980er Jahren wurde im Namen des losgelassenen Marktes eine Errungenschaft der Arbeiterbewegung nach der anderen geschleift. „Vati gehört rund um die Uhr mir“, propagiert das Kapital und liebäugelt seit Jahren mit der Abschaffung der Sonntagsruhe. „Da sei Gott vor“, diese Redensart wird schon bald niemand mehr verstehen, geschweige denn befolgen. Dann werden die letzten Hemmnisse und Rücksichtnahmen fallen, und es wird keinen Unterschied zwischen Lebens- und Arbeitszeit mehr geben. Rund zweihundert Jahre, nachdem sich die Arbeit aus vorbürgerlichen Lebenszusammenhängen herausgelöst und als abstrakte, kapitalverwertende Arbeit verselbständigt hat, legt sie sich wie ein Alp auf die Lebensverhältnisse der Menschen. Am Ende der kapitalistischen Entwicklung durchdringt die ökonomische Vernunft der „herausgelösten Ökonomie“ (Karl Polanyi) alle Lebensbereiche und es kommt zu einer pervertierten Wiedervereinigung von Arbeit und Leben. Das zerrissene Leben wird wieder ein Ganzes, aber eben ein vollständig kapitalistisch integriertes und dem Kommando des Kapitals und seiner Logik unterstelltes.

Dazu passt eine Meldung aus der Süddeutschen Zeitung vom Wochenende. Mercedes-Benz-Chef Ola Källenius stellt das Verfahren der Krankschreibungen für Arbeitnehmer in Deutschland in Frage. Es dürfe in Deutschland nicht so einfach sein, sich krankzumelden. „Wer ungerechtfertigt krankmacht, verhält sich unsolidarisch“, sagte Källenius in einem Interview mit der SZ. Ein Konzernchef beklagt sich über unsolidarisches Verhalten von Arbeitern! Nicht weil es unsolidarisch ist, sondern weil es den Profit seiner Firma schmälert. Die Anzahl der Krankmeldungen ist ein Indikator für die Zufriedenheit beziehungsweise Unzufriedenheit mit den Arbeitsverhältnissen und sagt viel aus über das Klima, das in einem Betrieb herrscht. Es hat etwas mit Anerkennung und Wertschätzung und der Identifikation mit der Arbeit und der Firma zu tun, nicht nur mit der Höhe des Lohns.

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„Denn auch an diesem Robinson zeigte sich, dass, ob zu Lande oder zu Wasser, jede Rettung nur vorläufig war.“

(Christoph Ransmayr)

In der letzten Ausgabe der Sendung „Druckfrisch“ traf sich Denis Scheck mit dem österreichischen Schriftsteller Christoph Ransmayr. Gerade ist dessen neuestes Buch erschienen, das den Titel „Egal wohin, Baby“ trägt. Das war ursprünglich ein Graffiti am Bahnhof von Ingolstadt, wohin es Ransmayr einer Lesung wegen verschlagen hatte. Er hat es fotografiert und einem seiner „Mikroromane“ vorangestellt, von denen der Band etliche versammelt. Die Mehrdeutigkeit dieser gesprühten Botschaft hat ihn fasziniert.  Sie kann bedeuten: Wo immer du hingehst, ich werde dich begleiten, notfalls auch in den Tod und durch die Hölle. Dann könne er auch bedeuten: Es ist eh wurscht, wohin wir gehen, woanders ist es auch beschissen. Es könnte auch noch andere Deutungen geben, das sei das Faszinierende an dem Graffiti. Scheck fragt, warum Ransmayr die Form des „Mikroromans“ gewählt habe. Die Fülle des Materials, das zur Bearbeitung und Beschreibung bereit läge, wachse ständig, während die Zeit, die ihm noch bleibe, schwinde. „Ich sitze bereits im unteren Kolben der Sanduhr, und der noch verbleibende Sand rieselt mir aufs schüttere Haar“. Scheck fragt dann noch, was die zahllosen Reisen, die Ransmayr unternommen hat, bewirkt hätten. „Sie und die Begegnung mit der Vielfalt der Welt haben eine Art von Allergie gegen jedwede Form dogmatischen Denkens erzeugt.“ Außerdem verdanke er den Reisen viele „glückhafte Erschütterungen“. Er berichtet von der Begegnung mit einem „Silberrücken“, einem mächtigen Gorilla, der ihn betrachtet und berührt habe und dann seines Weges gegangen sei. Er habe sich mit dem Tier mit einem tiefen Grunzlaut verständigt, der unter Gorillas als Zeichen des Vertrauens und freundlichen Interesses gilt und soviel heißt wie: Es ist gut, alles ist gut. Scheck würde Ransmayr, wenn er gefragt würde, für den Literaturnobelpreis vorschlagen. Dem kann ich mich vorbehaltlos anschließen. Auch dieses jüngste Buch kann ich euch und Ihnen sehr empfehlen und ans Herz legen. Bei der Gelegenheit fällt mir ein, dass Anfang der 1990er Jahre Giorgio Manganelli ein Buch herausgebracht hat, das er „Irrläufe: 100 Romane in Pillenform“ genannt hat. Auch dieses Buch versammelt lauter Anfänge oder Skizzen von Romanen, die die Leserinnen und Leser selbst weiterspinnen können. Flaneure und Weltenbummler bevorzugen diese kleine und fragmentarische Form, von der ein großer Reiz ausgeht.

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Wie nicht anders zu erwarten, war das Jahr 2024 wieder mal das wärmste Jahr seit es Wetteraufzeichnungen gibt. Egal, wir machen weiter, wie gehabt – scheiß drauf. In der Stadt sehe ich massenhaft Leute, die in Geschenkpapier verpackten Krempel nach Hause schleppen. Sie machen sich nicht einmal die Mühe, die Geschenke selbst einzupacken, mit denen sie ihre Liebsten beglücken und/oder steinigen. Bei uns braucht bei Lichte betrachtet niemand irgendetwas, und dennoch wird allen irgend etwas geschenkt, was die Werbung den Schenkenden souffliert hat. Zu keiner anderen Gelegenheit wird greifbarer, was der Begriff „Überflussgesellschaft“ meint, als zu Weihnachten. In anderen Weltgegenden könnte man Kinder mit Kleinigkeiten glücklich machen, hier werden die Sachen gelangweilt ausgepackt und bei nächster Gelegenheit weggeworfen.

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Den ersten einzelnen Handschuh sah ich gleich beim Verlassen des Hauses. Jemand hatte ihn aufgehoben und auf die Mauer gelegt, die das Nachbargrundstück einfasst. Er war rot und aus Wolle und hatte fünf Finger. Vermutlich hat ihn eine sorgende Großmutter ihrem Enkel zum letzten Weihnachten gestrickt und geschenkt. Auf den zweiten einzelnen Handschuh stieß ich im Johannespark. Er lag am Boden, ein kleiner hellblauer Fäustling, der einem Kind aus dem Kinderwagen gefallen war. Ich hob ihn auf und legte ihn auf eine Bank. Der nächste Handschuh lag auf der Straße, nahe dem Bordstein. Es war ein grüner Handschuh ohne Fingerkuppen, wie ihn Radfahrer benutzen. Es waren schon viele Autos über ihn gerollt und er war fast schon nicht mehr als Handschuh erkennbar. Er war Teil des Schmutzes geworden, der sich am Straßenrand angesammelt hatte und demnächst von einer Maschine zusammengekehrt und aufgesaugt würde.

Es ist eine Wintergeschichte, die sich jedes Jahr wiederholt. Überall in der Stadt stößt man auf Handschuh-Halbwaisen, die irgendwelche Menschen verloren haben. Und fast immer löst ein solcher einzelner Handschuh bei Passanten den Impuls aus, ihn aufzuheben und irgendwo sichtbar zu platzieren, in der Hoffnung, der Besitzer werde, wenn er den Verlust bemerkt hat,  den Weg noch einmal zurückgehen, um nach dem verlorenen Handschuh zu suchen. In dieser Geste ist etwas von einer Sorge um die Dinge aufbewahrt, die ihren Wert achtet und die Bedeutung respektiert, die ein verlorener persönlicher Gegenstand für seinen Besitzer haben mag. Ich las vor Jahren von einer Berlinerin, die sich mit dem Gedanken trug, im Internet ein Erinnerungsportal einzurichten, in dem sie verlorene Handschuhe nach Kategorien ordnen und auf einem Stadtplan die Stelle markieren wollte, wo sie sie gefunden und fotografiert hatte. Ich weiß nicht, ob sie ihr Vorhaben realisiert hat. Es klang so, als habe sie es ernst gemeint.

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„Wir sitzen hier, sagt T., das Essen hat uns geschmeckt, und wir reden gemütlich, anstatt laut schreiend auf die Straße zu rennen.“

(Christa Wolf)

Die klassengespaltene Herrschaftskultur, in der wir leben, hat keine Sozialisationsformen hervorgebracht und ermöglicht, die den Menschen eine Beweglichkeit, wie sie heute gefordert wird, mitgeben konnte. „Freude aus Verunsicherung ziehn – wer hat uns das denn beigebracht!“, fragte Christa Wolf bereits vor 40 Jahren in einer ihrer Frankfurter Poetik-Vorlesungen. Für die noch in alten Kindheitsmustern aufgewachsenen und autoritär fixierten Menschen wird die Antwort lauten: niemand und keiner und nichts.

Will sagen: Die heute von Wirtschaft und Gesellschaft verlangte Flexibilität überfordert viele Menschen. Es existiert eine zunehmende Desynchronisation zwischen der seelischen Innenausstattung der Menschen und den Anforderungen, die die sich rapide wandelnde äußere Realität an sie stellt. Sie verlieren das Gefühl der Kohärenz, das aber für die Aufrechterhaltung von Orientierungsvermögen, Gesundheit und Identität unabdingbar ist. Wer es einbüßt, droht krank zu werden an Leib und Seele. Mangels gangbarer Wege nach Vorn sehnen sich die vom Verlust des Kohärenzgefühls bedrohten Menschen nach stationären Zuständen und haben ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Nicht-Veränderung: Es soll sich endlich einmal nichts mehr ändern und alles so bleiben, wie es ist, oder noch besser: wie es war – oder vermeintlich war. Diese Gefühlslage ist neben Status- und Wohlstandsverlusten der wohl wichtigste Nährboden für den rechten Populismus. Mobilität und Flexibilität sind Verhaltensanforderungen des Kapitals. Sich ihnen zu verweigern, beinhaltet also womöglich auch einen antikapitalistischen Impuls, eine Intention auf etwas Richtiges. Dieses Richtige hätte die Linke der politisch-kulturellen Rechten, die es sich betrügerisch aneignet, abspenstig zu machen und ihm wirklich zu seinem Recht zu verhelfen. Wir sollten wieder mal Blochs „Erbschaft dieser Zeit“ lesen, wo viel über die „Aneignung linker Energien von rechts“ zu finden ist und darüber, wie man dieser begegnen könnte. Vor allem gälte es, der „Unterernährung der sozialistischen Phantasie“ ein Ende zu setzen und sie stattdessen kräftig aufzupäppeln. Nur so könnten wir uns wieder in die Lage versetzen, den verunsicherten Menschen Orientierung zu bieten und einen emanzipatorischen Ausweg aus ihrer und unserer Malaise zu weisen.

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Manchmal rührt mich Musik zu Tränen. Im aktuellen Fall waren es Passagen aus Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium. Das mag auch daran liegen, dass Kindheitserinnerungen angezapft werden, hauptsächlich aber liegt es an der wunderbaren Musik Bachs. Es gibt Tage, da muss ich einfach Bach hören. Was das für Tage sind, kann ich gar nicht genau sagen, aber ich weiß: Du solltest etwas von Bach auflegen! Ein Hauch von Melancholie ist im Spiel und eine vage Sehnsucht. Ich habe mir vor ungefähr einem Jahr (DHP 80: Wie kommt die Moral in die Menschen?) Gedanken über den Zusammenhang von Musikhören und dem „ozeanischen Gefühle“ gemacht, von dem Sigmund Freud in Anlehnung an Romain Rolland sprach und das ihm selbst nicht ganz geheuer war. Es geht um das Glück aufgehobener und verschwimmender Ich-Grenzen. Das Erleben einer bestimmten Musik enthebt uns vorübergehend des Zwangs, uns zusammenzureißen und unser Ich krampfhaft zusammenzuhalten. Wir können, wenn wir es zulassen, das Glück eines inneren Lösens erleben, das manchmal mit einen Weinen einhergeht oder es auslöst. Der Ursprung der Musik, so Adorno, „ist gestischer Art und nah verwandt dem des Weinens. Es ist die Geste des Lösens. Die Spannung der Gesichtsmuskulatur gibt nach, jene Spannung, welche das Antlitz, indem sie es in Aktion auf die Umwelt richtet, von dieser zugleich absperrt. Musik und Weinen öffnen die Lippen und geben den angehaltenen Menschen los.“ Beim Hören von Musik überschreiten wir Grenzen und das, was wir normalerweise als Wahnsinn von uns weisen, rückt uns näher und wird uns zugänglich. Nochmal Adorno: „Der Mensch, der sich verströmen lässt im Weinen und einer Musik, die in nichts mehr ihm gleich ist, lässt zugleich den Strom dessen in sich zurückfluten, was nicht er selber ist und was hinter dem Damm der Dingwelt gestaut war.“  (Philosophie der neuen Musik) Auch mir hat man versucht, das Weinen auszutreiben. Die Tränendrüsen waren beinahe ausgetrocknet, und ich bin froh, dass ich sie gerade noch wiederbeleben konnte.

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Das vierte Jahr Durchhalteprosa neigt sich dem Ende zu. Immer, wenn ich mit dem Gedanken spiele und Andeutungen mache, das Projekt zu beenden, erreicht mich eine aufmunternde Mail, doch bitte weiterzumachen. Das freut mich natürlich, und ich werde versuchen, diesen Wünschen zu entsprechen. Meine nachlassende Konzentrations- und Erinnerungsfähigkeit machen es mir nicht leichter, aber ich will es versuchen. Auch das ist ein Aspekt des Durchhaltens. Auch und vor allem die Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung spricht gegen ein Aufhören. Nicht dass ich ernstlich annehme, mit meinem Schreiben den Gang der Dinge beeinflussen zu können, aber es ist mir wichtig, mein „Nein“ zu ihm zu Protokoll zu geben.

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