„Ich denke, um das Leben aushalten zu können, muss man ein wenig zuversichtlicher sein, als es die Umstände hergeben.“
(Karen Duve)
Gestern sah ich vor einer dieser privaten Sprachschulen eine Gruppe von jungen, männlichen Migranten stehen und rauchen. Obwohl diese Schule mitten in der Fußgängerzone liegt, die für Autos gesperrt ist, fuhr gerade ein schwarzer BMW vor. Ihm entstieg ein gut gekleideter, mittelalter Mann, dem das Fahr- und Parkverbot offenbar egal war. In diesen Kreisen reicht man Strafzettel an den Anwalt weiter oder man nimmt sie als Nebenkosten, die nicht ins Gewicht fallen, billigend in Kauf. Die jungen Migranten standen bewundernd um das Auto herum und träumten ganz offensichtlich davon, dereinst auch so einen Wagen zu besitzen. Als der Besitzer zurückkam, fragten sie ihn in ihrem radebrechenden Deutsch, was für ein Autotyp das sei. „Ein BMW-X 2“, sagte dieser und fragte in die Runde, ob sie denn wüssten, für was das Kürzel „BMW“ stünde. „Bayerische Motoren Werke“, beantwortete er nach einer kurzen Pause seine Frage selbst, stieg ein und ließ die Tür ins Schloss fallen. In einer Art von chorischem Sprechen wiederholten die jungen Männer andächtig mehrfach: „Bayerische Motoren Werke“. Dann warfen sie ihre Kippen auf den Boden, traten sie aus und wandten sich dem Gebäude zu, in dem gleich der Sprachunterricht weitergehen würde. Ein wichtiges Element hatten sie an diesem Morgen ihrem deutschen Sprachschatz bereits hinzugefügt. Was wird das für eine Enttäuschung sein, wenn die jungen Männer realisieren, dass es mit den Objekten ihres Begehrens bald vorbei ist, jedenfalls in der Version, die sie gerade bestaunt hatten. Dem Projekt einer Verkehrswende wachsen durch sie jedenfalls keine neuen Sympathisanten zu. Ihre schon länger hier weilenden Kollegen gehören mehrheitlich zu jenen, die die Verkehrswende-Demonstrationen, hinter den getönten Scheiben ihrer getunten Limousinen sitzend, mit wütenden Hupkonzerten und Flüchen quittieren. Der Konsum wurde in den Nachkriegsjahrzehnten zum zentralen Medium der sozialen Integration, und seit den 1960er Jahren entschied der Besitz eines PKWs mit darüber, ob jemand zur Gesellschaft gehörte. Ein Auto zu besitzen wurde zum unverzichtbaren Bestandteil des Selbstwertgefühls. 1960 besaßen 10 Millionen Deutsche ein Auto, 1970 waren es bereits 20 Millionen. Heute sind in Deutschland rund 50 Millionen PKWs zugelassen. In gewissen städtischen Milieus wird der PKW als Statussymbol gegenwärtig vom Lastenrad abgelöst. Es ist das Schibboleth einer gut verdienenden grün-alternativen Mittelschicht. Für die Masse der migrantischen Jungmänner – und natürlich nicht nur für diese – ist das Lastenrad sicher keine Option, wobei die Liebhaber des Lastenrads natürlich auch noch mindestens ein E-Auto im Carport stehen haben.
Auf dem Heimweg sah ich vor an der Ampel zwei kleine Jungs mit ihren Rädern stehen. Ein riesiger SUV fuhr vorüber, und die beiden gerieten in einen Streit darüber, aus welcher Fabrikation dieser stammte. Sie einigten sich schließlich auf Porsche, der offenbar der Inbegriff ihrer Sehnsucht war. Beim Aussprechen des Firmennamens bekamen sie glänzende Augen, und sie träumten sich ganz offenkundig in einen solchen hinein. Erwachsenwerden heißt für sie: einen Porsche besitzen und fahren. Christian Lindner wird sie bei der Realisierung ihres Begehrens unterstützen und begleiten. Vielleicht öffnet ihnen die Pubertät auch die Augen und sie werden sich dann vehement für den Erhalt des Planeten einsetzen, wenn bis dahin überhaupt noch etwas zu erhalten ist. Es ist erschreckend, wie es dem Kapitalismus gelingt, sich im Inneren von Kindern festzusetzen und ihre Wünsche zu bebildern. Dennoch hoffe ich immer noch, dass die vorherrschende Gestalt der Wirklichkeit nicht das letzte Wort haben wird. Das kann und darf einfach nicht sein.
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Der Name des Vereins, aus dem die neue linke Partei hervorgehen soll, spricht für sich: „Bündnis Sahra Wagenknecht“. Personenkult dieser Art sollte der Vergangenheit angehören. Das ist ein trübes stalinistisches oder DDR-Erbe. Mit dieser Fixierung auf die „Führerin“ ist das Scheitern gleich mit gesetzt. So ein narzisstisch grundiertes Vorhaben kann nicht gelingen, jedenfalls nicht auf Dauer.
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„Der Industrialismus selbst ist das teuflische Labyrinth, das uns gefangen hält, und nur dadurch, dass wir den Industrialismus insgesamt überwinden, können wir möglicherweise einen Zustand erreichen, in dem der Mensch sich selbst verwirklichen kann. Die globale Entwicklung bewegt sich … genau in die entgegengesetzte Richtung, auf eine immer totalere Industrialisierung, eine immer umfassendere Zentralisierung aller Lebensfunktionen zu.“
(Lars Gustafsson)
Gestern las ich das Vorwort zu einer Schriftenreihe mit Texten von Rosa Luxemburg, die in den 1960er Jahren in der Europäischen Verlagsanstalt erschienen ist. Es stammt von Ossip K. Flechtheim, der den Nazis mit knapper Not entkommen war und nach seiner Rückkehr aus dem Exil Professor für Politikwissenschaft in Berlin wurde. Flechtheim betont, dass sich inzwischen herausgestellt habe, dass entgegen einer alten sozialdemokratischen Annahme, die anfangs auch Rosa Luxemburg teilte, das System keine rein ökonomischen Schranken kennt. Untergehen könne es höchstens an seinen gesellschaftlich-politischen Widersprüchen. Der in der Linken beheimatete geschichtliche Fatalismus wirkt bis heute fort: Der Sieg wird uns eines Tage wie eine reife Frucht in den Schoß fallen. Flechtheim gilt auch als einer der Wegbereiter der Futurologie. So fragt er sich am Ende des Vorworts, ob am Horizont der Geschichte nicht ein neues Subjekt der gesellschaftlichen Veränderung auftauche. Im „dritten Millenium“ könnten eine „radikal neue, und wirklich klassen- und herrschaftslose Weltkultur und -gesellschaft ins Leben treten“, die nicht so sehr „von dem Mann der Arbeit, als von dem über Roboter und Komputer verfügenden neuen Menschen der Muße getragen werden“. Mit diesem ganz anders gedachten Abschied vom Proletariat und einer Neubegründung des Sozialismus jenseits des Industrialismus habe ich mich ja in der DHP verschiedentlich beschäftigt. (Zum Beispiel in Teil 75) Ossip K. Flechtheim ist übrigens 1998 im Alter von fast 90 Jahren in Berlin gestorben. Er hat uns unter anderem eine umfassende Geschichte der „KPD in der Weimarer Republik“ hinterlassen, die 1969 in einer Neuauflage ebenfalls in der Europäischen Verlagsanstalt erschienen ist.
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Seit vielen Jahren höre ich immer wieder mal „Creedence Clearwater Revival“. Ich mag ihre einfache, schnörkellose und kristallklare Rockmusik. Lodi und Bad Moon Rising gehören zu meinen Lieblingsstücken. Die Band setzte sich für die Bürgerrechte ein und gab zahlreiche Benefiz-Konzerte. Ohne dies an die große Glocke zu hängen, versorgten sie die Indianer der belagerten Alcatraz-Insel mit Lebensmitteln und Ausrüstungsgegenständen. Das habe ich nicht vergessen und rechne ihnen das hoch an.
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Vor der Johanniskirche fällt einem kleinen Kind der Keks, an dem es gerade herumgelutscht hat, aus der Hand. Der Keks bleibt im Rinnstein liegen. Kurz darauf hüpft eine Krähe herbei, die das Herabfallen des Kekses von ihrem Aussichtspunkt aus beobachtet hat. Sie wendet den für ihre Verhältnisse recht großen Keks ein paar mal hin und her, packt ihn dann mit dem Schnabel und fliegt mit ihm davon. Sie landet auf dem Dach eines benachbarten Hauses. Dort wird sie den Keks in aller Ruhe verspeisen, ohne von anderen Krähen belästigt zu werden, die ihren Teil der Beute beanspruchen.
Heute zogen Tausende von Kranichen über die Stadt. Ihr Geschrei war trotz des städtischen Grundlärms gelegentlich zu hören. Die meisten Passanten nahmen keine Notiz von den Vögeln.
Abend hörte ich in einer Sendung über Vögel eine Jungwissenschaftlerin in die Kamera sagen: „Durch das Beobachten von Vögeln können wir unsere Aufmerksamkeitsbatterien aufladen.“ Diese Wissenschaftler und Wisseschaftlerinnen können einem wirklich alles verleiden, dachte ich. Sie verstehen nichts, wissen aber über alles Bescheid.
Junge Menschen werden beim Bezug ihrer Wohngemeinschaft von einem Kamerateam begleitet. „Wir haben schnell gemerkt, dass wir gut matchen.“ Früher hätte man gesagt: Dass wir ganz gut zusammenpassen, dass wir uns leidlich vertragen. Aber heute stiftet ja Tinder die Beziehungen, und so wird halt „gematcht“. Aber es ist nicht nur ein anderes Wort für denselben Vorgang, sondern das Wort verändert unbemerkt das von ihm Bezeichnete. Es ist technizistisch und suggeriert Mach- und Beherrschbarkeit.
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Bei einem Amoklauf in Lewiston im US-Bundesstaat Maine sind am 26. Oktober zahlreiche Menschen getötet und Dutzende weitere verletzt worden. Der Tatverdächtige befindet sich laut Polizeiangaben noch auf der Flucht. Bei dem Verdächtigen soll es sich um einen 40-jährigen, vom Militär trainierten Schusswaffenausbilder handeln. Die Behörden suchen mit Hochdruck nach dem schwer bewaffneten Mann. Er trägt den Krieg, der in einigen Weltregionen tobt und gewissermaßen in der Luft liegt, in die amerikanische Provinz. „Amoksleeper“ werden durch solche Ereignisse „geweckt“, ihre Tötungsabsichten aus der Latenz gerissen und scharf gemacht. Am Donnerstagabend war der Mann noch immer flüchtig. Bis dahin hatte er 18 Menschen erschossen und 13 weitere verletzt. Er soll sich wegen einer psychotischen Erkrankung in psychiatrischer Behandlung befinden oder befunden haben.
Mehr als zwei Tage nach dem Amoklauf im US-Bundesstaat Maine ist der Tatverdächtige tot aufgefunden worden. Der Amoklauf endete offenbar klassisch mit der Selbsttötung des Täters. Zu den Hintergründen und Motiven seiner Tat konnte ich nichts in Erfahrung bringen. Diese Tat wird, wie viele dieser Taten, trotz aller Aufklärungsbemühungen letztlich etwas Rätselhaftes behalten.
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U freute sich die ganze Fahrt nach Bad Wildungen über auf ein mit einem Bismarckhering belegtes Brötchen. Sie lässt sich das seit Jahren in einem Fischgeschäft nahe der Stadtkirche zubereiten und fand es bislang jedes Mal ausgesprochen lecker. Gestern lenkte sie ihre Schritte gleich in Richtung Fischgeschäft, dann hielt sie plötzlich inne und sagte: „Es ist weg!“ Ihr Fischgeschäft existierte nicht mehr. Die Räume, in denen es sich befunden hatte, waren leer geräumt, und es wurde renoviert und umgebaut. Da war sie wieder: die „Furie des Verschwindens“. Viele Menschen machen, seit der gesellschaftliche Wandel sich so dramatisch beschleunigt hat, die Erfahrung: Kehrt man irgendetwas den Rücken zu, ist es beim Wiederumdrehen entweder verschwunden oder bis zur Unkenntlichkeit verändert. Eben war etwas noch da, jetzt ist es schon verschwunden. Man kommt nach Jahren an einen vertrauten Ort und erkennt kaum etwas wieder. Nichts ist mehr an seinem angestammten Platz. Wenig später fragte im Buchladen, der seltsamerweise noch da ist, eine Kundin nach der Post, die sich bis vor kurzem direkt gegenüber befunden hatte. „Die ist schon seit letzten November nicht mehr hier. Sie befindet sich jetzt in einem Supermarkt.“ Die Buchhändlerin erklärte der Kundin, wie sie den finden könnte. Diese winkte resigniert ab, eine Resignation, die ich gut verstehen kann. Hier im Dorf kommt seit einigen Monaten der Bäckerwagen nicht mehr vorbei, der die Dorfbewohner mit Brot, Brötchen und Kuchen versorgte. Das Durchschnittsalter der Dorfbewohner liegt bei circa 70 Jahre, viele von ihnen waren auf die Versorgung durch den mobilen Bäcker angewiesen. Vor noch nicht allzu langer Zeit belieferte der Bäcker aus dem Nachbardorf morgens die Pensionen mit Brötchen. Er kam vor Tau und Tag und hängte kleine Leinensäckchen mit der gewünschten Anzahl von Brötchen an die Haustüren.
Seit Tagen macht die Pensionswirtin die kafkaeske Erfahrung, dass ihre Anrufe bei Ärzten ins Leere gehen. Es geht am anderen Ende einfach niemand an den Apparat. „Der Teilnehmer ist im Moment nicht erreichbar“, hört sie eine Stimme vom Band sagen. „Das kann doch nicht sein!“, sagt sie empört und mit wachsender Verzweiflung. Sie benötigt dringend für ihren Mann, der kaum noch Luft bekommt, einen Termin bei einem Lungenfacharzt. Ich habe im Internet einen Pneumologen in Marburg herausgesucht und ihre seine Telefonnummer herausgeschrieben. Dort passiert ihr seit Tagen dasselbe: „Der Teilnehmer ist im Moment nicht erreichbar“. Diese Erfahrung machen in letzter Zeit viele Menschen. Ihre Hilferufe bleiben ohne Resonanz. Nicht nur ihr Mann, diese Gesellschaft insgesamt pfeift auf dem letzten Loch. „Kafkaesk“ ist die Erfahrung der Ohnmacht, die die Anrufer machen. Niemand meldet sich, niemand sagt irgendetwas. Keine Reaktion, null, nichts. Die Verlässlichkeit, die es über weite Strecken der bundesdeutschen Geschichte gegeben hat, geht verloren. Die Menschen stehen hilflos vor einer gesellschaftlichen Riesenmaschine, die nur noch über Computer und Roboter mit ihnen kommuniziert.
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Drei 14 und 15 Jahre alten Schüler haben in Horn-Bad Meinberg im Kreis Lippe in Nordrhein-Westfalen mit Messerstichen und Faustschlägen einen 47 Jahre alten Mann getötet, der sich im Obdachlosenmilieu aufgehalten haben soll. Sie filmten ihre Tat und verbreiteten sie über die sogenannten sozialen Medien. Die Jugendlichen wurden fest- und im Haft genommen. Die Opferwahl soll zufällig erfolgt sein.
Meine Hirnantilope vollführt wilde Sprünge. Von Bad Meinberg nach Israel, wo die Hamas ihr Gemetzel vom 7. Oktober ebenfalls mit Körperkameras filmte und ins Netz stellte. Stolz präsentierten sie Aufnahmen von enthaupteten Babys, verbrannten Leichen und in ihren Autos erschossenen Zivilisten. Verbrechen werden seit einiger Zeit auch deswegen begangen, um Bilder zu erzeugen. Manchmal scheint dieser Zweck sogar dominant zu sein. Florian Rötzer hat für diese Art Taten den Begriff „Aufmerksamkeitsterror“ vorgeschlagen. Es werden Menschen getötet, misshandelt und gefoltert, damit Bilder daraus werden. Die Wahrnehmung der Betrachter wird das vorrangige Ziel der Tat. Das ist offenbar nicht das Privileg von Groß- und Berufsterroristen, sondern wird auch von kleinen Jungens aus dem Kreis Lippe praktiziert.
Der Hamas geht es bei diesen Bildern auch darum, vorzuführen, wie der Staat Israel beim Schutz seiner Bürger versagt. Wenn der Staat den Frieden und die Sicherheit seiner Bürger nicht mehr gewährleistet, wird der Gesellschaftsvertrag aufgehoben, das Recht ist verwirkt. Ein Ziel des Hamas-Überfalls bestand darin, den Nimbus der Uneinnehmbarkeit Israels und der Sicherheit seiner Grenzen zu zerstören. Dieses Urvertrauen ist irreparabel beschädigt und kann auch durch Racheakte in Gaza nicht wiederhergestellt werden. Gewalt zeugt immer nur neue Gewalt.
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In Regensburg hat in einem psychiatrischen Krankenhaus ein 14-Jähriger ein siebenjähriges Kind und einen Betreuer mit Messerstichen verletzt. Das Kind schwebt in Lebensgefahr. Da ein religiöser oder politischer Hintergrund nicht ausgeschlossen werden kann, hat die Bayerische Zentralstelle zur Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus bei der Generalstaatsanwaltschaft München die Ermittlungen an sich gezogen. Der jugendliche Täter ist polizeibekannt und soll Anfang des Jahres einen Amoklauf geplant haben.
Die gesellschaftliche Atmosphäre ist durch Kriege und Gewalt mit Hass und Feindseligkeit aufgeladen, die nun auch einzelne Täter aus der Reserve lockt und dazu animiert, länger schon gehegte Tatpläne zu realisieren. Es gibt gesellschaftliche Großwetterlagen, die im Sinne eines öffentlichen Klimas Gewalt treibhausmäßig gedeihen lassen und ihre Durchbrüche begünstigen.
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Durchs Fenster fällt mein Blick in den Garten vor der Pension. Im Wipfel eines Pflaumenbaums wiegen sich zwei aufgeplusterte Vögel im Wind. Sie hocken seit geraumer Zeit dort oben und scheinen Gefallen daran zu finden, sich schaukeln zu lassen.
U ist nach Gießen zurück gefahren. Sie muss am Montag wieder unter ihr schulisches Joch zurückkehren. Ich bin wegen der Handwerker, die wir im Haus hatten, erst später nachgekommen und werde noch ein paar Tage allein hier bleiben. Das Wetter ist zur Zeit allerdings greulich und abscheulich. Aber ich habe tolle Bücher mitgenommen, an deren Lektüre ich mich nun heranmachen kann.
Ab und zu taucht eine riesige Elster im Garten auf und versetzt die übrige Vogelwelt in Angst und Schrecken. Sogar die Wildtaube, die aus dem nahen Wald wegen des mit Nahrung bestückten Vogelhäuschens in den Garten gekommen ist, ergreift vorsichtshalber die Flucht. Apropos Angst und Schrecken: Ich habe mir eben eine Verfilmung des Märchens „Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“ angeschaut. Da ich mich mein Leben lang immer schon vor beinahe allem fürchte und voller Ängste bin, wollte ich schauen, ob ich dem Held des Märchens etwas ablernen kann. Aber ein früh und gründlich zerstörtes Ur-Vertrauen in Menschen, Welt und Dinge hinterlässt irreparable Schäden. Märchen leben davon, Lösungen parat zu halten und Glück selbst dem zu versprechen, der zur Glücklosigkeit verdammt ist. Das märchenhafte Glück, das dem Helden zum Schluss zuteil wird, rührte mich.
Bei Alexander Mitscherlich las ich einmal: „Wer nicht in den vor den bewussten Erfahrungen liegenden Perioden des Lebens Urvertrauen, eine Phase extremer Abhängigkeit, erlebt hat, wird sich dieses Geborgenheitsgefühl später nur mit unsäglicher Mühe durch Freiheit des Denkens erwerben können, und wen umgekehrt Kindheitserfahrungen an eine paranoide Position fixiert haben, der findet nur schwer die Gelassenheit des Vertrauens.“ Dass „Freiheit des Denkens“ Geborgenheit vermitteln kann, kann ich nur sehr bedingt bestätigen. Es ist und bleibt Zichorie, die an wirkliche Geborgenheit nicht heranreicht. Diese kenne ich allerdings auch nur vom Hörensagen. Denken baut Brücken über Abgründe, die aber als Abgründe links und rechts vom Weg erhalten bleiben. Und manchmal bricht das Geländer weg, an dem man sich über weite Strecken des Lebens entlanggehangelt hat. In solchen Augenblicken spüre ich die angstmindernde Funktion von theoretischen Gewissheiten und Begriffen, einfach daran, dass Ängste wiederkehren oder neue dazu kommen. Deswegen fällt es auch so schwer, die Begriffsgeländer loszulassen, selbst wenn sich ihre Unbrauchbarkeit längst herausgestellt hat. Die Geschichte der Linken liefert zahllose Beispiele dafür.
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„Wir sind doch Menschen. Man muss im anderen doch den Menschen sehen. … Man fragt mich oft, ob ich hasse. Aber Hass ist eine schreckliche Sache. Ich würde nie hassen wollen. Es bringt nichts. Ich habe nie gehasst, auch früher nicht. Es gibt kein christliches, muslimisches, jüdisches Blut, nur menschliches. Seid Menschen! Das ist es, was ich zu sagen habe.“
(Margot Friedländer in der Süddeutschen Zeitung vom 4./5. November 2023)
Das Katastrophale an der gegenwärtigen Lage besteht darin, dass weltweit eine Logik der Rache wieder aufersteht, die alle friedlichen Verständigungsbemühungen diskreditiert und unter sich zu begraben droht. Der Überfall Russlands auf die Ukraine und das von der Hamas angerichtete Massaker vom 7. Oktober haben allen Friedensbemühungen den Todesstoß versetzt. Jeder, der sich um andere als kriegerische Lösungen bemüht, macht sich verdächtig, es mit dem jeweiligen Feind zu halten. Gegen die Logik der Rache ist die gesamte juristische und auch politische Logik der Nachkriegszeit aufgebaut worden. Sogar der Kalte Krieg hat sich dieser letztlich gefügt und ist so einigermaßen pazifiziert worden. Die Wiederauferstehung einer „Kultur des Hasses“ (Eric J. Hobsbawm) lässt sich, wie wir gesehen haben, bis in die Poren des Alltagslebens verfolgen. Es scheint, als hätten zivile Methoden der Konfliktmoderation in absehbarer Zeit keine Chance mehr. Alltagsgewalt und Mentalitäten des prompten Zuschlagens und brutale Gewalt bin hin zum Amoklauf haben Konjunktur.
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Heute hatte ich mitten in der Nacht Besuch von einer Mücke. Nach längerem Suchen entdeckte ich sie, sie hatte sich hinter dem Gurt versteckt, mit dem man den Rollladen hochzieht. So konnte ich sie mit der Klatsche nicht erreichen, und als ich versuchte, sie mit mit der Hand zu erwischen, entwischte sie mir. Kaum lag ich wieder im Bett und versuchte einzuschlafen, surrte sie wieder um meinen Kopf herum. Also erneut aufstehen und Licht anmachen, das ganze Zimmer absuchen und sie nicht finden. Irgendwann resignierte ich und kroch wieder unter die Bettdecke. Ich schlief tatsächlich noch einmal ein und vergaß die Mücke. Nach dem Frühstück werde ich das Schlafzimmer gründlich nach ihr absuchen. Irgendwohin muss sie sich ja verkrochen haben. Ich schlief bis beinahe zehn Uhr, was mir lange nicht mehr gelungen ist. Trotzdem fühle ich mich zerschlagen und nicht richtig ausgeruht.
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Wie es um die Gießener Verkehrswende-Bewegung nach dem Scheitern des „Verkehrsversuchs“ bestellt ist, kann man daran sehen, dass sie heute zu einem „Halloween Ride“ einladen: „Erlebe eine schaurig-schöne Fahrt durch die Stadt. Verkleide dich, dekoriere dein Fahrrad und genieße die gespenstische Atmosphäre.“ Wie kann man sich bloß an ein solch dümmliches, geschmackloses und konsumistisches „Event“ anwanzen? Damit hat diese Gruppierung bei mir endgültig verschissen. Immer schon hat mich gestört, dass für sie das Fahrrad der Nabel der Welt und die Lösung nahezu aller Probleme darstellt und dass den Fahrradaktivisten die Aufregung über den Kohlendioxidausstoß der Automobile das Erschrecken über die Ausbeutung der Ware Arbeitskraft erspart. Aber mit dieser Aktion haben sie den Rubikon überschritten und sich vollends unmöglich gemacht. Um das Gespenstische zu genießen, benötige ich nicht Halloween, das gibt es das ganze Jahr über.
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„Das alles hatte auch sehr viel damit zu tun, dass sie die gesellschaftlichen Veränderungen in einem Tempo vollzogen, das allen den Atem nahm.“
(Geert Mak: Das Jahrhundert meines Vaters)
In letzter Zeit denke ich wieder vermehrt über die „Desynchronisation von Identitäts- und Realitätsstruktur“ nach, von der beim Sozialpsychologen und Psychoanalytiker Hans Kilian die Rede war und ist. In ruhigen und einigermaßen stabilen Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung kommt es zu einem Gleichklang zwischen den ökonomischen Imperativen des Systems und den psychischen Strukturen der Menschen. Der „Gesellschaftscharakter“ (Erich Fromm) verlötet die Impulse der Menschen mit den Anforderungen des ökonomisch-gesellschaftlichen Systems auf eine Weise, dass zwischen der Innerlichkeit der Menschen und den äußeren Funktionsimperativen eine weitgehende Übereinstimmung herrscht. Die Menschen erleben die gesellschaftlichen Anforderungen, die von außen an sie gestellt werden, als ihre eigenen Impulse. Diese relative Harmonie wird gestört, wenn der gesellschaftliche Wandel so rapide voranschreitet, dass die Subjekte nicht nachkommen. Bisher gut angepasste Menschen fallen aus ihrer Ordnung der Dinge und haben das Gefühl, dass der Film der äußeren Realität schneller läuft als der innere Text, den sie dazu sprechen. Sie sehnen sich nach stationären Zuständen und hoffen, dass eines Tages die äußere Realität wieder zu ihren inneren Texten passt. Das scheint mir unsere gegenwärtige Lage ganz gut zu beschreiben. Der Rechtspopulismus wartet mit dem trügerischen Versprechen auf, die gesellschaftlichen Verhältnisse so zu verändern, dass „Meister Anton“ seine Welt wieder versteht. Dazu wäre es erforderlich, die Dynamik des Kapitalprinzips und seinen expansionistischen Drang zu stoppen, was der heutigen Rechten genauso fern liegt wie dem historischen Original. Sie wachsen letztlich auf demselben Holz. Nochmal einen Schritt zurück. Der gesellschaftliche Wandel vollzieht sich selbst für jene zu schnell, die ihn protegieren und von ihm profitieren. Ihr Körper ist schlauer als ihr Kopf. Eines Tages wird er in Streik treten und sein stummes Nein artikulieren. Auch zu all den Abstraktionen, die an und von ihm vorgenommen werden. Allerdings auf eine Weise und in einer Sprache, die sie nicht verstehen. Sie werden sich als Versager empfinden, die dem Tempo nicht gewachsen waren, und sich selbst die Schuld geben. Das Pensum an Veränderungen, das ein Mensch bewältigen und in seinen Lebenslauf integrieren kann, ist begrenzt. Wird diese Grenze längere Zeit überschritten, tritt Verweigerung ein, die zunächst ohne sprachlichen Ausdruck bleibt. Ihr politischer Ausdruck ist zur Zeit das Votum für die AfD, die das diffuse Unbehagen artikuliert. Allerdings in einer entfremdeten Form: Das Leiden unter all dem, was fremd geblieben ist und sich der Wahrnehmung nicht fügt, wird auf „die Fremden“ verschoben. Ohne ihre Präsenz käme alles wieder ins Lot, lautet das populistische Versprechen. In Oskar Negts autobiographischem Buch „Überlebensglück“ heißt es: „Der Fremdenhass lebt von der Täuschung, dass die Gesellschaft gesund und krisenfrei gemacht sei, wenn der letzte Ausländer das Land verlassen hat.“ Wir würden uns dann im Handumdrehen unter den giftigen Bäumen unseres eigenen Dschungels vorfinden. Wir hätten keine Möglichkeit mehr, uns via Projektion von Problemen und Spannungen zu entlasten.
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Gestern Abend hatte ich mal wieder eine veritable Sehstörung und heute als Folge davon Kopfschmerzen. Das Wetter passt dazu: es stürmt und regnet. Der Wind pfeift ums Haus und reißt das welke Laub von den Bäumen. Im Radio wird davor gewarnt, den Wald zu betreten, wegen der Gefahr herabfallender Äste und umstürzender Bäume. Also bleibt man heute wohl besser zu Hause und liest ein Buch. Heute werde ich „Das Jahrhundert meines Vaters“ von Geert Mak zu Ende lesen, ein tolles und für mich spannendes Buch, weil es ja auch das Jahrhundert meines Vaters – und zumindest in der zweiten Hälfte – auch mein Jahrhundert war. An einer Stelle schreibt Mak: „Als meine Eltern 1961 nach Hardegarijp zogen, gab es im ganzen Dorf nicht einmal eine Knoblauchzehe zu kaufen.“ Und wer einen Camembert haben wollte, musste ein Spezialgeschäft in der nächsten größeren Stadt aufsuchen. Diese Details machen das Buch so liebens- und lesenswert. Über seine Mutter, die ihren Mann überlebte, schreibt er: „Sie vermisste meinen Vater schrecklich, aber das allein war es nicht. Auch die Zeit machte sie einsam. Es war, als gäbe es keine allmählichen Entwicklungen mehr, als machte die Welt in den letzten Jahren Sprünge, es war schwer, da noch mitzukommen. … Die Welt hatte sich während ihres Lebens um- und umgewälzt, die Erinnerungen wurden immer lebendiger, die Gegenwart immer unwirklicher.“
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Gestern sah ich, als ich von einem Spaziergang ins Dorf zurückkehrte, eine Nachbarin, die einen Laubsammler über den Rasen vor ihrem Haus schob. Über den Zaun hinweg wechselten wir ein paar Worte. Sie beschwerte sich über die auf ihren Rasen gefallenen Blätter. „Ich habe überhaupt keine Laubbäume, das weht alles von den Nachbarn zu mir herüber.“ Tatsächlich ist ihr Grundstück ausschließlich mit diesen Nadelhölzern bestanden, die man im Baumarkt kaufen kann und die nicht „schmutzen“. Sie werden dann auch noch meist in eine Kugelform gebracht, so dass eigentlich nichts mehr an Natur erinnert. „Psychopathen-Gärten“ könnte man in Anlehnung an Peter Berthold solche Vorgärten nennen. Wo sich irgendein sogenanntes Unkraut hervorwagen könnte, wird Mulch oder Schotter ausgebracht, die Ränder der Grundstücke werden nach wie vor mit Glyphosat besprüht. Dann hat man seine Ruhe.
Abends sah ich Bilder aus dem Amazonasgebiet. Boote lagen auf dem Trockenen, weil die Flüsse im Regenwald kein Wasser mehr führen. Es herrscht die größte Dürre seit Beginn der Wetteraufzeichungen. Das Bild eines auf Grund gelaufenen Flussdampfers ließ mich lange nicht los. Aus Furcht vor Plünderern wagt es der Besitzer nicht, das Boot zu verlassen und nach Hause zu gehen. Meine Hirnantilope sprang zu Werner Herzogs Film „Aguirre, der Zorn Gottes“, in dem es eine Szene gibt, in der ein Schiff zu sehen ist, das im Wipfel eines Baumes hängt, während Kinski zur Musik der Krautrock-Band Popol Vuh auf seinem Floß vorübertreibt und Totenkopfaffen wegschleudert, die das Floß okkupiert haben und auf ihm herumklettern. Apokalyptische Bilder im Film und in den Nachrichten.
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In Paris sollen in den nächsten Tagen hunderte von Briefen versteigert werden, die der berühmt-berüchtigte Bandit Jacques Mesrine aus dem Gefängnis an seine Geliebte geschrieben hat. Dann brach er spektakulär aus dem Gefängnis aus und wurde fortan gnadenlos gejagt. Am 2. November 1979 wurde er schließlich in seinem Wagen sitzend an einer Kreuzung gestellt und starb im Kugelhagel der Polizei. Viele Leute sprachen damals von der Hinrichtung eines Staatsfeindes. Den Mythos, den seine Person umgab und bis heute umgibt, hat dieser Tod noch einmal befördert. Im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses hatte er zuvor seine Lebensgeschichte aufgeschrieben, die unter dem Titel „Der Todestrieb“ erschienen ist. Meiner Einschätzung nach ist dieses Buch der Gefängnis-Bestseller schlechthin und zwar weltweit. In meiner Zeit im Butzbacher Gefängnis habe ich das Buch in der Taschenbuchausgabe von Rowohlt etliche Male besorgt und in die Bibliothek des evangelischen Pfarrers gestellt. Die Exemplare wurden entliehen und verschwanden im Untergrund des Gefängnisses, wo sie zirkulierten, bis sie irgendwann auseinanderfielen. Es war eine Zeit, in der sich im Milieu der Knäste – und mitunter auch „draußen“ – politische und kriminelle Subkulturen überschnitten und mischten. In jeder Gefangenengeneration gab es mindestens einen, der sich den Namen Mesrine zu eigen machte und sich so nennen ließ. Manchmal wurde ein Möchtegern-Gangster, der sich „Mesrine“ nannte oder nennen ließ, von den anderen belächelt, weil das Hochstaplerische an dieser Aneignung so offenkundig war. Einer von diesen ist mir Ende der 1990er Jahre bei einem Tagesausgang abgehauen, was unangenehme Folgen für den damaligen Direktor hatte, der den Ausgang genehmigt hatte. Unser „Mesrine“ wurde wenig später beim Versuch, ein Auto zu knacken, in Offenbach ganz unspektakulär verhaftet.
In einem Interview mit der Zeitung Libération aus dem Jahr 1979 wird Mesrine gefragt: „Sie haben gesagt, bei Ihrer Lebensweise laufen Sie Gefahr, getötet zu werden. Wie fühlen Sie sich, wenn Sie an so etwas denken?“
„Wir wissen alle ohne Ausnahme, dass wir von Geburt an zum Tode verurteilt sind. Unser erstes Strafurteil besteht darin, dass wir zum Tode verurteilt sind (es ist eigentlich banal, was ich Ihnen sage). Ich finde es nicht idiotischer, durch eine Kugel im Kopf zu sterben als am Lenkrad eines R 16 oder in der USINOR-Fabrik bei einer Arbeit, die den Mindestlohn einbringt. Ich persönlich lebe vom Verbrechen. Von einer bestimmten Art Verbrechen, die nicht darin besteht, Greise anzugreifen, sondern Banken und bestimmte Fabriken. Ich will mich nicht rechtfertigen, aber das Geld, das ich den Banken klaue, ist nicht das Geld der Leute, die es in die Banken gebracht haben … Ich nehme nur die Zinsen, die die Banken mit dem Geld der Arbeiter machen. Wenn ich einer Bank 20 Millionen klaue, ist das gar kein Drama … Ich wiederhole es: Banken zu überfallen, ist mein Beruf. Nun – sterben bzw. die Gefahr auf sich nehmen zu sterben, wenn man einmal mit der Gewalt lebt … Ich will nicht behaupten, mit der Pistole in der Hand zu sterben sei wie ein Mann zu sterben, nein. Wie ein Mann sterben – das gibt es nicht. Den Tod gibt es, sonst nichts.“
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In der FAZ vom 22. Oktober hat Jürgen Kaube aus Anlass des 100. Geburtstags von Otfried Preußler einen Text über diesen geschrieben, der so beginnt: „Kinder wurden bei den alten Griechen, darauf hat Hannah Arendt hingewiesen, ‚die Neuen‘ genannt. Weil sie neu auf der Welt sind, muss ihnen erzählt werden, was bisher geschah. Das betrifft nicht nur Geschichte und Naturgeschichte, sondern auch die Sagen und Legenden. In ihnen ist altes Erfahrungs- und Traumwissen niedergelegt.“ Ich fragte mich beim Lesen unmittelbar, welche Geschichten durchschnittliche Eltern von heute ihren Kindern erzählen, um sie auf die Höhe der Zeit und den aktuellen Stand zu bringen? Erzählen sie ihnen überhaupt etwas, lesen sie ihnen etwas vor? Wie funktioniert die kulturelle Transmission heute? Ich fürchte, die Kette der Überlieferung ist abgerissen, die Enkulturation geschieht, wenn überhaupt, medial. Es ist aber etwas grundlegend anderes, ob eine Großmutter ihrer Enkelin die Geschichte von Krabat erzählt, oder ob das Kind sich ein Video reinzieht. Nach innen rutschen die Geschichten nur, wenn sie von leibhaftig anwesenden Menschen, zu denen eine Bindung besteht, erzählt und überliefert werden. Viele heutige Eltern sind selber desorientiert und wissen nicht, was das Richtige ist, das einer und eine tun, und was das Falsche, das einer und eine lassen sollte. Wie sollen sie unter diesen Umständen zur Orientierung ihrer Kinder beitragen?
Hier schlösse sich die Frage an, ob es in den kapitalistischen Gesellschaften überhaupt noch die Familie ist, die den Charakter des Kindes formt? Herbert Marcuse vermutete bereits in den 1960er Jahren, dass die Familie in den westlichen Industriegesellschaften an Prägekraft verliert und die Gesellschaft die Kinder umweglos in Beschlag nimmt. Kinder würden „nicht mehr ernstlich von Vaterimagines heimgesucht“. (Das Veralten der Psychoanalyse, in: Kultur und Gesellschaft 2, Frankfurt 19689) Psychoanalytiker werden im Zukunft ihr Erstinterview nicht mehr mit der Frage nach dem Verhältnis zu Vater und Mutter beginnen, sondern mit den Fragen: Wann hatten sie ihr erstes Handy und: Mit oder an welchem Computerprogramm sind sie aufgewachsen? Die Familie ist jedenfalls nicht länger der Ort, von dem die Erzählung und Geschichte des Selbst ihren Ausgang nimmt.
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Heute, dem 4. November 2023, kehre ich nach Gießen zurück. Ich hatte eine gute Zeit hier am Edersee, mit dem mich eine lange Geschichte verbindet. Ich habe verschiedentlich davon erzählt. Die letzten Tage war ich allein hier, bin umhergegangen und habe viel gelesen. Im Wesentlichen das Buch von Geert Mak über seinen Vater und das 20. Jahrhundert. Ich finde, dass es ihm gut gelingt, die Lebensgeschichte seines Vaters mit den säkularen Trends zu verknüpfen. In etlichen Passagen fand ich mein Elternhaus und auch mich selbst wieder. Also nochmal eine ausdrückliche Leseempfehlung: Geert Mak: Das Jahrhundert meines Vaters, München 2003. Solange U hier war, haben wir uns weiter Lutz Seilers „Stern 111“ vorgelesen. Da das ein ziemlicher Schinken ist, dauert unser Vorlesen jetzt schon fast vier Wochen. Seiler wird heute in Darmstadt mit dem Georg-Büchner-Preis 2023 ausgezeichnet. Ich finde völlig zu recht.
Zwei Mal traf ich mich mit Günter, dem Mann meiner vor einem Jahre gestorbenen Cousine Dorothea. Auch diese Begegnungen waren sehr angenehm und voll intensiver Gespräche. Jetzt heißt es aufräumen und packen. Und Abschied nehmen von den tollen Wirtsleuten, mit denen ich den gestrigen Nachmittag bei gemeinsamer Gartenarbeit verbracht habe. In der Dämmerung sind wir mit dem Trecker in den Wald gefahren und haben das ganze Laub, das wir hier zusammengerecht hatten, abgeladen. War ein schöner letzter Tag. Ein richtiger Herbsttag – mit Wind und fallenden Blättern. Um ihn komplett zu einem Kindheitstag mit Kinderglück zu machen, hat nur ein Kartoffelfeuer gefehlt.
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Die französisch-israelische Soziologin Eva Illouz, 1961 geboren als Tochter sephardischer Juden in Marokko, hat in der Süddeutschen Zeitung vom 28./29. Oktober 2023 einen Text veröffentlicht, in dem sie sich mit der Reaktion der Linken auf das von der Hamas begangene Massaker an israelischen Zivilisten auseinandersetzt. In ihrer Skrupel- und Ruchlosigkeit übersteigt das, was die Hamas am 7. Oktober getan hat, noch einmal jene Verbrechen, die in der Folge von Kriegen gewöhnlich auftreten und für die sich die kalt-techniszistische Bezeichnung „Kollateralschäden“ eingebürgert hat: Menschen wurden enthauptet, Kinder vor den Augen ihrer Eltern getötet, es gab Vergewaltigungen und Leichenschändungen – und das alles vor laufenden Kameras. Der Terror der Hamas beinhaltet auch eine starke sexuelle Komponente, die sich besonders beim Überfall auf das Festival in der Negev-Wüste und auf die Kibbuze zeigte. Juden- und Frauenhass waren hier wie zu einem Zopf verflochten. Wer dieses unheimliche Gemisch verstehen will, wird zur „Dialektik der Aufklärung“ und zu Klaus Theweleits Buch „Männerphantasien“ greifen müssen. Trotz dieses Gewalt- und Grausamkeitsüberschusses in den Verrechen der Hamas gab es auf Seiten der Linken keinen Aufschrei der Empörung und Entsetzens, sondern überwiegend Indifferenz und Kälte, bis hin zu Schuldzuweisungen an die Opfer: Die Israelis selbst sind die Ursache der gegen sie gerichteten Gewalt, der Hamas-Terror ist nichts als der Rückschlag der kolonialen Gewalt, die die Israelis seit Jahrzehnten praktizieren. Die pro-palästinensischen Demonstrationen übertreffen in puncto Teilnehmerzahlen inzwischen bei weitem die Solidaritätsbekundungen für Israel. Illouz: „Ich glaubte auch, dass das politische Lager, das am meisten von den Gräueltaten abgestoßen sein würde, meine eigenen Leute wären, die Linken. Nun nicht mehr. Ein großer Teil der Linken – also die Seite, die seit zwei Jahrhunderten Gleichheit, Freiheit und Menschenwürde verteidigt hat, begrüßt entweder die Nachricht von den Massakern (‚Widerstand gegen einen Besatzer‘), oder sie hat sie mit intellektuellen Vernebelungsstrategien abgetan. Die Linke hat terrorisierte Juden in der ganzen Welt und in Israel schamlos im Stich gelassen.“
Genau das ist es. Punkt. Und ohne jedes Aber. Wir hätten uns dringend mit dem Mangel an Empathie innerhalb der Linken zu beschäftigen, aber dazu wird es nicht kommen. Mitgefühl, das heißt die Fähigkeit, sich in andere einzufühlen, gehört schon lange nicht mehr zu den geförderten und gewünschten linken Tugenden. Sonst hätte man nach all den von Linken verübten Verbrechen schon längst große Probleme haben müssem, sich noch als Sozialist, Kommunist oder Linker zu bezeichnen. Bei der Beurteilung der Prognose von Gefängnisinsassen gilt „mangelnde Opferempathie“ als negativer Prädiktor und solange die Linke die von ihr produzierten Leiden und Opfer nicht in ihre Geschichte und ihr Selbstbild integriert hat, besteht auch bei ihr Wiederholungsgefahr.
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