100 | Vom literarischen Steinewälzen

„Wohnungen werden ja nicht dafür gebaut, damit Leute in ihnen wohnen können, sondern um sie zu verkaufen und weil ihr Wert sich zu steigern verspricht.“

(Ken Loach)

Als ich vor etlichen Jahren meinem Freund und Verleger Wolfgang von den Schwierigkeiten berichtete, meine Texte irgendwo unterzubringen, sagte er spontan: „Du solltest deinen eigenen Blog betreiben.“ Er sei gern bereit, mir technische Hilfestellung zu geben und das digitale Gerüst einzurichten. In der Folgezeit kam er immer mal wieder auf dieses Angebot zurück. Als die GEW Anfang 2023 unsere Zusammenarbeit aufkündigte, gingen wir das Projekt an. Ab Folge 65, die den Titel „Der erste Reichsbürger“ trägt, erscheint die Durchhalteprosa in eigener Regie, was eigentlich bedeutet: in Wolfgangs Regie. Ich liefere „nur“ die Texte, und Wolfgang gestaltet das ganze Layout. Es ist nun, da die 100. Folge der DHP erscheint, an der Zeit, Wolfgang einmal ausdrücklich Dank zu sagen – ich denke auch im Namen der Leserinnen und Leser, die uns den Weg von der GEW zum eigenen Blog gefolgt sind. Wie viele es sind, wissen wir nicht. Also: Vielen Dank, Wolfgang! Und auf noch zahlreiche weitere Folgen.

Wofür man das alles macht? Das frage ich mich oft. Meine Antwort: sibi ipsi, in erster Linie für  mich selbst. Ich habe es oft genug gesagt: Ohne das tägliche Schreiben wäre es für mich nicht oder noch schwerer auszuhalten. Schreiben ist mein „Abwehrzauber“ gegen eine übermächtige Realität, wie Wolfgang Herrndorf das auch für sich beschrieben hat. Der Ahnherr all solcher Projekte ist Sisyphos, der unermüdlich einen Felsbrocken einen Berg hinauf wälzt, von dem er dann sogleich wieder hinunterrollt. Camus zufolge müssen wir uns Sisyphos dennoch als einen glücklichen Menschen vorstellen. Er hat das Steinewälzen zu seinem Projekt gemacht, es ist sein Stein, den er wälzt und sein Leben, das er führt. Das auf den ersten Blick Absurde entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als Dialektik der Freiheit. Sartre, hier Camus eng verwandt, erklärt den Krieg, in den er geschickt wird, zu „seinem Krieg“. In dem Moment, wo er eingesehen hat, dass er sich für den Krieg entschieden hat – er hätte ja auch desertieren können – übernimmt er ihn als eigene Sache und in die eigene Verantwortung. Sisyphos ist als Allegorie des Lebens zu verstehen, das wir bei aller Determiniertheit doch „führen“ müssen und es damit zu „unserem Leben“ machen. Die Durchhalteprosa, wie mein Schreiben insgesamt, dient mir als Gehhilfe, mit deren Hilfe ich mich, so gut es geht, durch mein beschädigtes Leben schleppe. Im Laufe der Zeit habe ich gelernt, auf Anerkennung von außen weitgehend zu verzichten. Niemand und keiner und nichts in den Medien nimmt Notiz von meinem Schreiben. Aber gelegentlich erreichen mich freundliche E-Mails von einzelnen Leserinnen und Lesern, die sich für Anregungen bedanken, die sie durch die Lektüre erhalten haben. „Unbedingt weiterschreiben, bitte“, schrieb unlängst ein Leser aus Hamburg. Auch ein Imker aus der Lausitz ermunterte mich. Ein anderer schickte mir ein Foto vom Grabmal Herbert Marcuses, in das die Aufforderung eingraviert ist: Weitermachen! Aus solchen und ähnlichen Rückmeldungen beziehe ich eine Unterstützung, ohne die ich nicht auskäme. Ohne die anderen und deren Resonanz geht es nicht! Selbst ein stabiles und relativ autonomes Selbstwertgefühl droht ohne Resonanz der Anderen zuschanden zu werden. Ganz in den luftleeren Raum hineinzuschreiben, wäre auf Dauer nicht aushaltbar.

Als grobe Orientierungshilfe im Dschungel der Durchhalteprosa biete ich den Leserinnen und Lesern ein Inhaltsverzeichnis der ersten 100 Folgen an. Genaueres über den Inhalt der jeweiligen Folge liefern die Schlagworte, die sich beim Aufruf der einzelnen Folgen unter der jeweiligen Überschrift finden. Um die ersten 65 Folgen lesen zu können, muss man auf die Internetseite der GEW Ansbach gehen, die sie immer noch präsent hält. Genau wie 33 Folgen des Corona-Tagebuchs, das ich Anfang 2020 in die Durchhalteprosa überführt habe.

1 Melancholie des Scheiterns

2 Universums des Lärms

3 Bebel – Gabriel

4 Ethizide

5 Celebro, ergo sum

6 Vom Schwimmen im Fluss

7 Eiswüste der Abstraktionen

8 Wandervögel am Edersee

9 Vom Agonisieren

10 Trump verhindern

11 Anomie in Germoney

12 In den Wald gehen

13 Vom Schlafen im Kanonenrohr

14 Hereinbrechende Ränder

15 Ich traue beiden nicht

16 Wir leben in einer Zeit der Umbrüche

17 Amok oder Terror

18 Weihnachten

19 Das Jahr des Büffels

20 Die soziale Revolution

21 Eigentum tötet

22 Frierende Stachelschweine

23 Nirwana des Geldes

24 Surrogatpolitik

25 Tage der Kommune

26 Verabredung in Samarra

27 Der Mann, der den Eiffelturm verkaufte

28 Die Abschaffung des Lenkrads

29 Kindesmissachtung 2.0

30 Das Lebendige und das Tote

31 Das optimierte Gesicht

32 Lost Generationen

33 Ein Rotmilan kreist über dem Dorf

34 Protokoll der Selbstzerstörung

35 Versuch über „Herdendummheit“

36 Lob der Höflichkeit

37 Frühe Verschickungen

38 Entfremdung zweiten Grades

39 Verlust der Kohärenz

40 Brancos Hosen

41 Corona-Lemminge

42 Kipppunkte

43 Auf der Höhe des Zorns

44 „Nulla dies sine linea“

45 Wer ist schuld an mir?

46 Krieg liegt in der Luft

47 Kriegsfolgen

48 Brüder der romantischen Verlierern

49 Wahnhafte Reformideen

50 Lügen in Zeiten des Krieges

51 Die geköpfte Taube

52 Vom „übers Knie legen“

53 Der Tod im Lebenden

54 Bodentruppen des Weltgeistes

55 Königreich für Landstreicher

56 Weiter, immer weiter

57 Orwells Rosen

58 Von der Gewalt der Abstraktionen

59 Abschied vom Fluss

60 Chaos stiften und Angst verbreiten

61 Das Geld ist queer

62 Der Mann mit dem Hund

63 Kollateralschäden

64 Die Normalisierung des Grauens“

65 Der erste Reichsbürger

66 Tünche über dem Abgrund

67 Normalungetüme

68 Schliemannsche Funde

69 Das braune Raunen

70 Statistiken bluten nicht

71 Die Schlange, der Riss und der Tod

72 Machnos Erben

73 Das Rätsel der „freiwilligen Knechtschaft“

74 Zur Dialektik der Einsamkeit

75 Die Geburt des Sozialismus aus dem Geist des Ressentiments

76 Nachmittag mit Graureiher

77 Demokratie als Lebensform

78 Die Furie des Verschwindens

79 Das große Vergessen

80 Wie kommt die Moral in die Menschen?

81 Empathie lernen

82 Fallende Blätter

83 Fauchende Schwäne 

84 Vom Pfeifen im Walde

85 Die Logik der Rache

86 Antisemitismus: Das Gerücht über die Juden

87 Zum „Abhitlern“ ins „Teutonenhaus“

88 Die Kohlengruben-Kanarienvogel-Theorie

89 Gesellschaften bedürfen der Ungleichzeitigkeit

90 Die Lehnitzsee-Konferenz und die „Endlösung“ der Migrantenfrage

91 Der Faschismus als Investitionshindernis

92 Finsternis bedeckt die Erde

93 Grüne Sündenböcke

94 Fieberkranke Identitäten

95 Vom Aus-der-Spur-Springen

96 Die (Noch-nicht-) Demokratie verteidigen!

97 Patient 064 – Ein Vormittag im Kafka-Universum der Uni-Klinik

98 Die Bank an Röntgens Grab

99 Paul Austers Spinne

100 Vom literarischen Steinewälzen

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Ein weiterer Schritt in der langen Geschichte der Kommerzialisierung des Fußballs war vor dem Vorbereitungsspiel gegen Griechenland zu beobachten. Ein  elektrisches Mini-Auto eines der Sponsoren der Nationalmannschaft fuhr am Freitagabend über den Rasen des Stadions in Mönchengladbach und brachte dem Schiedsrichter den Spielball zum Anstoßpunkt. Von den Kameras wurde das Logo der Firma natürlich groß ins Bild gesetzt. Es wird nicht zum Schaden des Kameramanns und des Privatsenders gewesen sein. Es ist gräulich und abscheulich. Und das Spiel der deutschen Mannschaft war es dann auch, zumindest in der ersten Halbzeit, die ich mir angeschaut habe. Dann hatte ich genug. Traditioneller deutscher Rumpelfußball, wie zu den schlimmsten Zeiten. Mutlos und ohne Ideen. Der Querpass-Toni, der bei seiner Rückkehr in die Nationalmannschaft wie ein Messias begrüßt wurde, wird hier auch keine Abhilfe schaffen. Zugegeben, ab und zu gelingt Toni Kroos auch mal ein sogenannter tödlicher Pass in die Spitze, aber leider nicht in diesem Spiel. Es bot einen traurigen und ernüchternden Kontrast zum Wunschbild, das die Medien seit Wochen von der deutschen Mannschaft entwerfen. Ein wirtschaftlich angeschlagenes und ziemlich marodes Land erhofft sich seine Auferstehung und Genesung durch Erfolge beim Fußball.

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Die Europawahlen liegen nun endlich hinter uns, mit einem Ausgang, der zu erwarten gewesen war. Macron handelt nach der alten Maxime: Eine Katastrophe, die man nicht aufhalten kann, muss man beschleunigen, und löst die Nationalversammlung auf, was Neuwahlen bedeutet, die er nur verlieren kann. Ein Schritt, vor dem unsere regierenden Ampelparteien zurückschrecken, weil sie genau wissen, wie Neuwahlen ausgingen. Also werden sie ohne Rückendeckung der Bevölkerung und mit viel Gegenwind im Parlament weiter vor sich hin wursteln. Die Ampelregierung liegt wie eine Endmoräne einer ihr einstmals günstigeren Stimmungslage in der Gegend herum. Die drei Ampelparteien kommen nun zusammen auf ungefähr soviel Stimmen wie die CDU. Die Linke befindet sich im freien Fall und wird demnächst im Orkus der Geschichte verschwinden. Ich habe ihr eine Schippe Erde auf den Sarg geworfen – in Form meiner Stimme. Die AfD bekam trotz der zahlreichen Skandale der letzten Zeit rund 16 Prozent der Stimmen und befindet sich weiter im Aufwind. Es ist interessant, dass ihr – ähnlich wie Donald Trump – die Affären und Skandale nicht geschadet, sonder eher genutzt haben. „Jetzt erst recht!“, sagen sich ihre Anhänger und halten trotzig an ihr fest. Die Wagenknecht-Partei kann einen beachtlichen Anfangserfolg verbuchen und wird bei den bevorstehenden Landtagswahlen in drei östlichen Bundesländern eine gewichtige Rolle spielen. Kanzler Scholz legt eine Schmerzunempfindlichkeit an den Tag, die eine Ähnlichkeit mit gewissen psychiatrischen Krankheitsbildern aufweist. Was bei manchen Patienten als Gefühlskälte imponiert, ist manchmal das Resultat einer Flucht vor der Gefahr einer narzisstischen Kränkung und Ausdruck einer extremen Verletzbarkeit. Wir können hier vom Schutzmechanismus einer emotionalen Anästhesie sprechen. Bis in die Mimik wirkt Scholz mitunter stuporös erstarrt. Eine opake Figur jedenfalls, unser Kanzler.

In Gießen fällt die mir unbekannte Partei „Volt“ etwas aus der Rolle, die mit 7,9 Prozent der Stimmen deutlich über ihrem Bundesergebnis von 2,5 liegt. Das scheint etwas mit dem hohen Studentenanteil an der Gießener Wahlbevölkerung zu tun zu haben. Was genau das ist, vermag ich nicht zu sagen, weil ich die Partei und ihre Programmatik nicht kenne. Ich vermute, sie steht für Urbanität, Weltoffenheit und Queerness. Die Grünen, die 2019 bei der Europawahl in Gießen sagenhafte 31,9 Prozent erreichten, landeten nun bei 18,5. Die Linke liegt in Gießen mit 5,6 rund ein Prozent vor der Wagenknecht-Partei. Immerhin etwas.

Schlimm sind die Phrasen am Abend und am Tag nach einer solchen Wahl. Eine nichtssagender und dümmer als die andere. Flaubert hätte für sein „Wörterbuch der Gemeinplätze“ reiche Ernte halten können. „Es ist uns nicht gelungen, unsere Politik und deren Erfolge gut genug zu kommunizieren.“ „Wir haben uns zu sicher gefühlt.“ „Das müssen wir jetzt in den nächsten Tagen aufarbeiten.“ Ricarda Lang von den Grünen legte das Geständnis ab, dass sie und ihre Partei zu spät auf TikTok aktiv geworden seien. So erklärt sie sich den Umstand, dass die Grünen in der Gunst der jungen Wählern abgestürzt sind, auf die sie früher zählen konnten und für deren Stimmrecht sie sich eingesetzt haben. Sahra Wagenknecht ließ den Werbe-Kalauer vom Stapel: „Wir sind gekommen, um zu bleiben!“ Mir ist in all den Wahlsendungen und Talk-Shows kein Statement untergekommen, dass das Attribut „Gedanke“ verdient. Durch die Bank Sprechblasen und Gemeinplätze, nirgends Selbstkritik, analytische Schärfe und Klarheit.

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Nach der tödlichen Messerattacke auf einen Polizisten in Mannheim hat Bundeskanzler Scholz angekündigt, die Abschiebung von „Schwerstkriminellen“ nach Afghanistan und Syrien wieder ermöglichen zu wollen. Innenministerin Nancy Faeser prüfe diese Möglichkeit derzeit und werde dem Bundestag demnächst berichten. Seit der erneuten Machtübernahme der Taliban in Kabul im August 2021 gilt in Deutschland ein Abschiebestopp für Afghanistan. In solchen Momenten gibt sich Scholz als waschechter Sozialdemokrat alter Schule zu erkennen. Er träumt immer noch davon, wiedergewählt zu werden, und möchte sich den Verfechtern von Law and Order gegenüber als harter Hund profilieren. Einer, der den Leuten als Zauderer und Weichei gilt, möchte sich zu Charles Bronson verpuppen, der entschlossen gegen das Verbrechen vorgeht. Das ist Populismus in Reinkultur und der übelsten Sorte. Vor allem: Wer soll ihm diese Verpuppung abnehmen?

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„Die Welt ging in die Binsen, und die einzige Möglichkeit, nicht mir ihr in die Binsen zu gehen, bestand darin, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren – jeden Morgen sich aus dem Bett zu wälzen und loszulegen, ob die Sonne aufzugehen beschloss oder nicht.“

(Paul Auster „4321“)

Heute Morgen habe ich, rund fünf Wochen nach Paul Austers Tod, die Lektüre seines Hauptwerks „4321“ beendet. Und ich bin von diesem 1259 Seiten langen Roman, in dem er das Leben von Archibald Ferguson in vier verschiedenen Varianten durchspielt, rundherum begeistert. Was wäre passiert, wenn ich hier anders abgebogen wäre, wenn ich in diesem Moment dem Glück nicht die kalte Schulter gezeigt hätte? Welche ungewordenen Möglichkeiten schlummern in einer Biographie? Ein sehr gelungenes und fesselndes literarisches Experiment. Ich habe es zu keinem Zeitpunkt bereut, diesem Buch vier Wochen meiner Lebenszeit gewidmet zu haben. Man erfährt, wie nebenbei, auch viel über die amerikanische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Gegen Ende erleben wir einen Abstecher ins Gefängnis von Attica mit, wo 1971 nach dem Tod eines Black-Panther-Aktivisten ein Aufstand der Gefangenen gegen die unerträglichen Haftbedingungen stattfand. Dieser wurde von der Staatspolizei blutig niedergeschlagen. Zehn von den Aufständischen als Geiseln genommene Wärter und neunundzwanzig Häftlinge kamen ums Leben. In der letzten Version ist Ferguson Reporter, der über den Aufstand von Attica hätte berichten sollen, wenn er nicht in der Nacht zuvor bei einem Wohnungsbrand umgekommen wäre.

Nach der Beendigung einer Lektüre, die meine Aufmerksamkeit wochenlang in Anspruch genommen und mich gefesselt hat, entsteht ein Moment der Leere, ein eigenartiges literarisches Interregnum. Es fällt mir dann manchmal nicht leicht, eine neue Lektüre zu finden, die mit der gerade beendeten mithalten kann. Es liegen noch einige begonnene Bücher auf Halde, denen ich mich nun noch einmal nähern will. Mal sehen, ob eines darunter ist, dem es gelingt, meine Aufmerksamkeit zu wecken und zu binden. Die Latte ist durch Paul Auster sehr hoch gelegt.

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Aus meiner Liebe zu den Mauerseglern habe ich nie einen Hehl gemacht und meiner Freude über ihre Rückkehr im Frühsommer in der DHP regelmäßig Ausdruck verliehen. Am letzten Wochenende hat Cord Riechelmann in der FAZ seine Kolumne „Lebewesen der Woche“ den Mauerseglern gewidmet. Er berichtet davon, dass ein französischer Pilot im Ersten Weltkrieg während eines nächtlichen Sondereinsatzes in 3000 Meter Höhe in einen Schwarm von Vögeln geraten war, die bewegungslos zu sein schienen und keine Reaktion zeigten. Er war in eine Gruppe schlafender Mauersegler geraten, was er später herausfand, da es ihm gelang, zwei Vögel aus der Luft zu fangen, mitzunehmen und zu bestimmen. Es scheint tatsächlich so zu sein, dass Mauersegler fast ihr gesamtes Leben, ausgenommen die Zeit der Brut und der Jungenaufzucht, in der Luft verbringen. Mit Anbruch der Dunkelheit steigen sie langsam in Richtung Himmel auf, bis sie in circa zwei Kilometer Höhe in Schlaf fallen, wo es dann auch nichts ausmacht, wenn sie im kurzen Tiefschlaf etwas an Höhe verlieren. Auch ihre Nahrungsaufnahmen geschieht in der Luft, wobei sie Insekten mit weit geöffnetem Schnabel einfach im Rachen versenken. An insektenreichen Tagen fangen sie auf diese Weise bis zu 20.000 von ihnen. Hoffentlich bleiben die Mauersegler vom Besendern verschont, das mir wie eine zeitgenössische Besessenheit vorkommt. Luchse, Wölfe, Bären, Störche, Otter, Fledermäuse, Eulen, alles, was nicht bei drei auf den Bäumen und oder sonstwo in Sicherheit ist, wird gepackt, betäubt und in Namen des wissenschaftlichen Fortschritts mit einem Sender ausgestattet. Wir müssen alles wissen, herausfinden und unserer Kontrolle unterstellen, nichts beleibt vom Willen zum Wissen verschont, dessen Kern letztlich das Profit- und Herrschaftsinteresse ist. Am Mauersegler könnte für die Arbeitsgesellschaft und die Industrie von Interesse sein, wie er es schafft, Schlafen und Fliegen miteinander zu kombinieren. Menschen, die bei der Arbeit schlafen oder im Schlaf weiterarbeiten, das wär‘s doch! Das haben bisher nicht einmal die Japaner und die Chinesen hinbekommen. Auch vom philosophischen Vordenker der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft, dem Engländer Jeremy Bentham, der sich in der Nutzenmaximierung sonst weit vorgewagt hat und vor nichts zurückgeschreckt ist, sind solche Phantasien und Pläne nicht bekannt

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Gestern wurde ab Mittag unser ganzen Stadtviertel mit Bumsmusik beschallt. Die Quelle des Lärms war ein Universitätsgebäude, das an diesem Tag vom Fachbereich Bau der Technischen Hochschule in Beschlag genommen war, der dort ein Sommerfest für die Studierenden ausrichtete, die also an diesem Nachmittag auf jeden Fall keine „Studierenden“, sondern Tanzende waren. Da es wohl in den Vorjahren nach ähnlichen „Events“ massive Proteste der Anwohner gab, haben die Studierenden vorsorglich Flugblätter in die Briefkästen der umliegenden Häuser geworfen. Darin wurde angekündigt, dass es ab dem frühen Nachmittag bis „voraussichtlich“ Mitternacht laut werden würde. Auch angekündigte Regelverstöße bleiben Regelverstöße, dachte ich, man kann sie nicht dadurch rechtfertigen, dass man vorher bekannt gibt, dass man sie begehen wird. Man sei herzlich eingeladen, vorbeizukommen und mit den Studis ein Freigetränk eigener Wahl zu trinken. Ein probates Mittel der Abwehr: die von Lärm-Attacken Betroffenen in Komplizen verwandeln. Dann folgt eine Passage, über die ich stolperte: „Wir haben Verständnis dafür, dass Sie sich in Ihrer Privatsphäre und Ruhe gestört fühlen. Allerdings bitten wir Sie auch zu berücksichtigen, dass wir unseren Studierenden einmal pro Sommer eine Möglichkeit der gemeinsamen Abendgestaltung bieten möchten.“ Es rührte mich, dass die Veranstalter sich so in die Anwohner einfühlen und „Verständnis dafür haben“, dass wir uns gestört fühlen könnten. Doch der Versuch der Empathie geht daneben, wovon die gestelzte Formulierung Zeugnis ablegt. „Wir können uns reindenken, dass wir Sie stören, aber wir machen es trotzdem.“ Hätte bloß noch gefehlt, dass man geschrieben hätte, dass man den Studierenden Gelegenheit zu Unterhaltung und intellektuellem Austausch bieten möchte – bei 100 Dezibel lauter Dauerbeschallung. Wenn man den Studierenden einmal im Jahr etwas Außergewöhnliches bieten möchte, dachte ich bei mir, dann sollte man ihnen die Möglichkeit der Erfahrung von Stille und intellektueller Resonanz bieten. Das ganze Schreiben machte mich so wütend, dass ich ich mich nach den Erfahrungen der Vorjahre prophylaktisch beim Ordnungsamt erkundigte, welche Auflagen zur Lärmbegrenzung man den Veranstaltern gemacht hatte und welche Möglichkeiten der Gegenwehr von unserer Seite es gibt. Vor allem interessierte mich, wie man die Einhaltung der eventuell gemachten Auflagen zu kontrollieren gedenke. Die Antwort, die ich immerhin bekam, lautete wie folgt: „Im Rahmen der hier zur Verfügung stehenden personellen Ressourcen kann eine Kontrolle unsererseits nicht garantiert werden. Allerdings können wir Ihnen anbieten, dass Sie eigenständig Lärmmessungen durchführen (beispielsweise mit einer Handyapp), diese protokollieren und uns anschließend zur Verfügung stellen. Solche Aufzeichnungen könnten dann – in Verbindung mit Ihrer Zeugenaussage – ein Bußgeldverfahren gegen den Veranstalter nach sich ziehen.“ 

Etwas ernüchtert antwortete ich auf diese Mail wie folgt: „Grenzsetzungen, deren Einhaltung nicht kontrolliert werden, sind nichts wert. Das wissen Sie selbst am besten. Ich finde es problematisch, die Aufgabe der Kontrolle der von Ihnen erlassenen Begrenzungen an die Bürger zu delegieren. Bei mir scheitert es schon daran, dass ich kein Handy besitze und also auch keine entsprechende App, um solche Lärmmessungen durchführen zu können.“

Meist laufen Kontaktversuche mit Behörden und Institutionen ja auf Taubstummen-Dialoge beziehungsweise -monologe hinaus. Das heißt, es passiert gar nichts. Hier in Hessen sagt man: Es ist, als hätte man „einem Ochs ins Horn gepezzt“. Dass ich überhaupt eine Antwort erhalten habe, führe ich darauf zurück, dass ich am Ende meiner Mail darauf hingewiesen hatte, dass ich Kolumnist bei einer örtlichen Tageszeitung bin und mir vorbehalten würde, über die Party und die Reaktion des Ordnungsamts auf mein Schreiben zu berichten. So etwas wirkt bezeichnenderweise.

Ich staunte selbst über meine Höflichkeit, die aber eher Resignation war. Wie soll bei solch tatkräftigen Behörden der Zerfall der öffentlichen Ordnung und der wechselseitigen Rücksichtnahme aufgehalten werden? Durch Delegation hoheitlicher Aufgaben an die Bürger, die Polizeiaufgaben übernehmen und sich nachfolgend in langwierige Rechtsstreitigkeiten verstricken sollen? Ich ging in die nächste Apotheke und erstand eine Packung Ohrenstöpsel, mit deren Hilfe ich den Nachmittag und Abend leidlich überstand. Alle ducken sich weg und versuchen, irgendwie zu überleben. Gegen Mitternacht wurde die Musik, wenn man den Lärm denn so nennen kann, etwas leiser, so dass ich sogar einschlafen konnte.

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In den unermesslichen Weiten meiner Bücherregale stieß ich vor ein paar Tagen auf ein Rowohlt-Bändchen aus dem Jahr 1961 mit dem Titel: „Die Alternative oder Brauchen wir eine neue Regierung?“ Der Herausgeber Martin Walser hatte rund zwanzig Schriftsteller und eine Schriftstellerin gefragt, – darunter Carl Amery, Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Hans Werner Richter, Erich Kuby, Axel Eggebrecht und Fritz J. Raddatz –  ob ihnen eine Antwort auf die im Titel des Buches gestellte Frage einfallen würde. Es fand sich keiner, der auf die gestellte Frage mit Nein geantwortet hätte. Ich fand meinen Fund deswegen so interessant, weil die Frage ja auch in unserer Gegenwart hochaktuell ist, aber wem könnte man sie stellen? Und was müsste man nicht alles im Vorfeld bedenken, würde man eine solche Frage an heutige Intellektuelle und Schriftsteller richten?

Der von mir sehr geschätzte amerikanische Schriftsteller Richard Ford stellt sich im Vorfeld der US-Wahlen in der Süddeutschen Zeitung vom 14. Juni 2024 ähnliche Fragen. „Den diesjährigen Wettbewerb um die Präsidentschaft dürfte es so eigentlich gar nicht geben. Keiner dieser brabbelnden, torkelnden Opas sollte in die Lage kommen, irgendjemanden zu schlagen. Wähler äußern offene Abneigung gegen beide Kandidaten – aus naheliegenden Gründen. Beide sind viel zu alt, um vorhersagbar eine Amtszeit zu überstehen. Beide reden über die Hälfte der Zeit Unsinn. Den einen kümmert die Wahrheit nicht die Bohne, der andere frisiert sie gern. Beide haben jüngere, bessere Konkurrenten gnadenlos verhindert.“ Bei aller Kritik an beiden Bewerbern, macht Ford keinen Hehl daraus, dass ihm Joe Biden dann doch lieber ist. „Ausgehend von dem, was Biden gemacht hat, weiß man ziemlich gut, was er machen wird. Er ist ein bekannter Faktor – das war früher mal was wert. Heute allerdings finden die Hälfte der Leute das irgendwie langweilig.“ Wenn du die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten hast, wähle die Dritte, lautet eine jüdische Weisheit. Doch was tun, wenn eine dritte Möglichkeit nicht in Sicht ist?

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Am Freitagabend (14. Juni) ist es in Grevesmühlen in Nordwestmecklenburg zu einem offenbar rassistisch motivierten Angriff auf zwei acht und zehn Jahre alte ghanaische Mädchen gekommen. Wie die Polizei am Sonnabend mitteilte, sollen die Täter dabei dem jüngeren Mädchen unter anderem ins Gesicht getreten haben. An diesem Tritt ins Gesicht sind nach Auswertung von Handy-Videos inzwischen Zweifel aufgekommen. Aber wie dem auch im einzelnen sei, es bleibt eine üble rassistische Attacke. Bei den Angreifern handele es sich um bis zu acht Personen aus einer Gruppe von insgesamt 20 Jugendlichen, die sich zuvor auf einem Stadtfest beim Absingen rassistischer Lieder und Grölen ausländerfeindlicher Parolen in Stimmung gebracht haben sollen. Als der Vater der beiden Mädchen die Jugendlichen zur Rede stellte, sei auch er angegriffen worden. Der Vater und seine jüngere Tochter wurden leicht verletzt in ein Krankenhaus gebracht.

Das Über-Ich, sagte einmal ein amerikanischer Psychologe, sei in Alkohol löslich, und das nimmt im Zusammenspiel mit gruppendynamischen Prozessen Hemmungen von den Leuten, die normalerweise ihre destruktiven Tendenzen einigermaßen im Zaum halten. Um schutzlose kleine Mädchen anzugreifen, muss man schon ziemlich enthemmt sein. Wobei das, was sich im Suff Bahn bricht, ja in den Menschen vorher bereits vorhanden sein muss. Die Bildung des Gewissens ist ein komplizierter und höchst störanfälliger Prozess. Sein Gelingen ist an das Vorhandensein tragfähiger menschlicher Bindungen in der sensiblen Phase der Kindheit gebunden und die scheinen mehr und mehr zu erodieren, so dass ein Über-Ich, das seine Aufgabe mit hinreichender Zuverlässigkeit erfüllt, sich immer seltener ausbilden kann. Zur Erinnerung: Die Aufgabe des Gewissens oder Über-Ichs besteht darin, die Menschen darüber zu belehren, was das Gute ist, das sie tun, und was das Schlechte ist, das sie zu unterlassen haben. Bei Verstößen gegen das verinnerlichte Regelwerk stellen sich Schuldgefühle ein, die dafür sorgen, dass Normen und Regeln im Normalfall befolgt werden. Ich habe im Corona-Tagebuch, Folge 6, und in der DHP, zum Beispiel in Folge 80, immer wieder Überlegungen zu der Frage angestellt, was gesellschaftlich passieren wird, wenn diese Gewissensinstanz porös wird. Da die Fußball-Europameisterschaft und die Kirmessaison gerade erst begonnen haben, werden uns in nächster Zeit noch etliche solcher ekel- und grauenhaften Ereignisse ins Haus stehen. Seien wir dankbar für den Rest an Hemmungen, der die allgemeine Tendenz zur Verrohung überlebt hat.

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Seit einiger Zeit fällt mir eine Frau auf, die mehrmals am Tag durch unsere Straße geht. Sie ist mir vor allem dadurch aufgefallen, dass sie stets auf der Straße und nicht auf dem Bürgersteig geht. Vielleicht stammt sie aus der Ukraine, aus Charkiw oder Mariopol, wo man stets herabfallende Trümmerteile befürchten musste. Sie geht zwischen den geparkten Autos und dem fließenden Verkehr, wobei sie die Arme vor der Brust verschränkt hält. Sie ist um die fünfzig Jahre alt, trägt stets einen Rock, halbhohe Stiefel und eine braune Lederjacke. Die Haare sind schulterlang und straßenköterblond. Sie muss mal recht hübsch gewesen sein, wirkt inzwischen aber versteinert, so als hätte sie etwas Schlimmes durchgemacht, das ihr Gesicht hart und ihren Mund schmal werden ließ. Sie setzt sich, wenn sie unsere Straße hinter sich hat, vorn im Park allein auf eine Bank. Wenn sich jemand zu ihr auf die Bank setzt, steht sie auf und geht weiter, bis sie eine leere Bank gefunden hat. Sie spricht mit niemandem, riskiert keinen Blickkontakt, sondern schaut mit unbewegter Miene ins Leere. Mit anderen Menschen, denen ich ähnlich oft begegne, entstehen Blickverhältnisse, die irgendwann zu Grußverhältnissen, manchmal auch zu Sprechverhältnissen führen. Bei ihr gibt es keinen einzigen Ansatz zu irgendwas. Sie ist umgeben von einem Kreis aus Einsamkeit, der undurchdringlich wirkt.

In der Fußgängerzone kommt mir ein etwas verwahrlost wirkender junger Mann entgegen. Als er näher kommt, merke ich, dass er halblaut mit sich spricht und von unwillkürlichen Zuckungen im Gesicht heimgesucht wird. Einer der immer zahlreicher werdenden Stadtpsychotiker. Alle paar Meter verpasst er sich selbst eine Ohrfeige. Einmal rechts, einmal links und dann wieder von vorn. Vielleicht hofft er, auf diese Weise die Zuckungen unter Kontrolle zu bringen. Was er redet, ist nicht zu verstehen. Meine Hirnantilope – wo ist sie in der letzten Zeit gewesen? – sprang zu einem Häftling in Butzbach, der jeden Morgen zur Zentrale kam, um sich von einem bestimmten Beamten eine angedeutete, also eher symbolische Ohrfeige verpassen zu lassen. Als ich ihn einmal auf dieses eigenartige Ritual ansprach, sagte er, er sei das von klein auf so gewohnt. Sein Vater habe allen seinen Kindern jeden Morgen prophylaktisch eine Ohrfeige gegeben. Die Ohrfeige des Beamten, sagte er, rücke ihn für den Tag zurecht. Er brauche das als Orientierung. Als diese Generation von Beamten, die noch aus Zuchthauszeiten stammte, in Pension gegangen ist, und die dazu passenden Gefangenen entlassen oder gestorben sind, sind auch solche Rituale verschwunden. Heute würde niemand mehr so etwas wagen, und das ist natürlich im Kern auch gut so. Herrschaft ist auch im Gefängnis sachlicher und unpersönlicher geworden. Herrschaft ist es natürlich trotzdem geblieben. Verhalten wird weitgehend gewaltlos zwangsgeregelt. Aus der zu Beginn der kapitalistischen Entwicklung gebräuchlichen „Peitsche des Aufsehers“ wird später durch „Erziehung, Tradition und Gewohnheit“, der „stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse“, wie es bei Marx heißt. Die Menschen haben die Gewalt in sich hineingenommen und führen ihr ungelebtes Leben in stiller Verzweiflung. Noch später werden auch die letzten Spuren eines unglücklichen Bewusstseins getilgt. Es bricht, zumindest in den kapitalistischen Metropolen, das Zeitalter des „unendlichen Spaßes“ an, wie David Foster Wallace unser Gegenwart nannte, kurz bevor er sich erhängte. „Die Bösen sind wir los, das Böse ist geblieben“, hat Peter Brückner den Formwandel der Herrschaft einmal beschrieben.

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Am Montagabend sah ich den Film „Rom, offene Stadt“ von Roberto Rosselini. Er spielt im von den Deutschen besetzten Rom und zeigt die Aktivitäten einer Widerstandsgruppe um den Priester Don Pietro und den Ingenieur Giorgio Manfredi. Die Folterszenen haben mich sehr mitgenommen und mir eine beinahe schlaflose Nacht eingebracht. Ich identifizierte mich natürlich mit den Leuten des Widerstands, deren Leiden mir sehr nahe gingen. Es gab auch viele kleine Szenen, die mich beeindruckt haben. Pina, gespielt von Anna Magnani, ruft ihren jüngeren Sohn vom Spiel nach oben in die Wohnung, um ihn mit einer Nachricht zu Don Pietro zu schicken. „Das hat mir gerade noch gefehlt“, kommentiert der kleine Junge den Auftrag seiner Mutter. Heute würde solch ein kleiner Junge an dieser Stelle einen obszönen Fluch absondern und seiner Mutter den Stinkefinger zeigen. 

Während ich am Schreibtisch sitze und zu schreiben versuche, höre ich den ganzen Tag Sirenen. Jeder Alarm signalisiert eine Notlage. Das versuche ich mir bewusst zu machen, wenn in mir der Ärger aufsteigt und mich irgendwann ganz auszufüllen droht. Irgendwann stumpft man ab und empfindet ein Geräusch, das eigentlich moralische Aufmerksamkeit verdient und Anteilnahme erfordert, nur noch als lästig. Siri Hustvedt, die auch unter dem permanenten Sirenengeheul leidet, hat versucht, sich „die Sirenen als Musik der Stadt zu denken, als schrilles Klagelied“. Ob es ihr geholfen hat, weiß ich nicht. Bei mir funktioniert diese Deutung des durchdringenden Lärms nur gelegentlich, dann wieder macht er mich bloß wütend. Manchmal brülle ich dagegen an. Jetzt kommen für ein paar Wochen noch die allabendlichen Autokorsos dazu, die, je nach Temperament, bis zu zwei Stunden dauern können. 

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Zum molekularen Bürgerkrieg: Ich signalisiere einem Autofahrer, dass er im Begriff ist, in die falsche Richtung in eine Einbahnstraße zu einzubiegen. Er lässt die Scheibe runter und brüllt mich an; „Wo ist das Problem, du Arsch!“ Ich Depp war davon ausgegangen, er wäre versehentlich im Begriff gewesen, in der falschen Richtung in eine Einbahnstraße einzubiegen, dabei war es ihm einfach scheißegal.

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Jetzt weiß ich, was ich an Julian Nagelsmann nicht mag. Er trägt die Poloshirts und Hemden bis oben hin zugeknöpft. Da er das immer so hält, ist es kein Zufall, sondern verweist auf einen Charakterzug: Ordnungsliebe, Pedanterie, Perfektionismus, Zwanghaftigkeit. Das versucht er, hinter einer nach außen zu Schau gestellten Lockerheit zu verstecken. Vielleicht tue ich ihm auch unrecht und er hat einfach beibehalten, was seine Mama ihm beigebracht hat: Dass man Hemden bis zum Hals zuknöpft. Der Julian ist ganz gewiss ein braver Bub.

Nach dem Spiel gegen Ungarn ist es extrem laut auf den Straßen. Ich muss zugeben: Das Gegröle der betrunkenen Fußballfans flößt mir Schrecken ein. Für wen oder was, aus welchen Anlässen würden sie auch noch grölen? Jeden Moment kann der trunkene Jubel in Gewalt gegen Außenseiter und Fremde umschlagen, kann aus dem Jubel Hass werden. Ich möchte lieber nicht wissen, von wie vielen Leuten und an wie vielen Orten an Abenden wie diesen die rassistische Version von „L’amour Toujours“, also die Sylt-Version, gegrölt wird. Der sogenannte Missbrauch ist solchen Musikstücken immanent, das heißt, der Musik selbst wohnt bereits etwas Faschistisches inne. Alles, was sich zum Grölen eignet, ist der Tendenz nach faschistoid. Das müssen sich auch die „Toten Hosen“ sagen lassen, die mit ihrem Song „An Tagen wie diesen“ ebenfalls einen in alle Richtungen anschlussfähigen Song in die Welt gesetzt haben. Sie dürfen sich nicht wundern, wenn dieses Lied vom CDU-Vorstand und auf Wahlpartys der AfD gesungen wird.

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„Nur noch Notizen, wie der Gefangene
Zeichen an die Wand schreibt.“
(Sándor Márai)

Es wird mir wohl nichts anderes übrigbleiben als weiterzuschreiben. Gegen den Untergang der Welt  und meinen eigenen anzuschreiben. Sándor Márai begann in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit dem Tagebuchschreiben und hörte nie mehr damit auf. „Er hatte jene Form entdeckt, die seiner Veranlagung und seinem Talent am meisten entsprach.“ Ohne mich mit Márai vergleichen zu wollen, könnte ich das auch für mich und von mir sagen.

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Unten vor dem Haus hält jeden Mittag ein Minicar-Fahrer und bringt zwei ukrainische Flüchtlingskinder zurück, die er morgens abholt und zur Schule fährt. In letzter Zeit schreien sich die beiden Mädchen heftig an und streiten sich wie die Kesselflicker. Wie ernst das ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Ich bewundere die stoische Gelassenheit, mit der Fahrer den Tumult in seinem Auto erträgt. Gestern brüllte das eine Mädchen dem anderen, das bereits ausgestiegen war, nach: „Du Jude!“ Die Integration macht Fortschritte, dachte ich.